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Die Sängerinnen und Sänger mit Dirigentin Emmanuelle Haïm (Mitte).

© Bettina Stöß

Zeitreise ins barocke Rom: Die Berliner Philharmoniker mit einem Händel-Oratorium

Bedenke, dass du sterblich bist: Die Philharmoniker spielen erstmals Händels frühes Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“, Emmanuelle Haïm dirigiert.

Greller Kontrast zu ihrer eigenen Biennale im Februar: Während sich die Berliner Philharmoniker eben noch der Musik der 50er und 60er Jahre gewidmet haben, mit György Ligeti im programmatischen Zentrum, führen sie jetzt Barockmusik auf. Die Pariser Dirigentin Emmanuelle Haïm ist am Donnerstagabend zu Gast, und sie hat ein Oratorium mitgebracht, dass die Philharmoniker noch nie gespielt haben: Georg Friedrich Händels „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“, was man übersetzen kann mit „Der Triumph der Zeit und der Enttäuschung“ oder besser: „der Erkenntnis“, was ja häufig dasselbe ist.

Das Besondere: Händel hat diese Musik nicht etwa in seiner bekannten Londoner Oratoriumszeit geschrieben, sondern viel früher, als 22-Jähriger in Rom, und der Text stammt von einem Kardinal, der sich als Mäzen und Librettist betätigt hat, Benedetto Pamphilj. Nur nebenbei: Aus dessen Familie war einige Jahrzehnte zuvor mit Innozenz X. ein Papst hervorgegangen, den Velázquez in einem berühmten Gemälde verewigt hat, das wiederum Francis Bacon als Grundlage für seine höllischen Papst-Verfremdungen diente.

Ein zutiefst moralisches Stück

Es ist ein zutiefst moralisches Stück, durchtränkt von christlicher Memento-Mori-Motivik, mit nur vier handelnden Figuren, die Allegorien verkörpern: Bellezza (die Schönheit) erfreut sich ihrer Jugend und wird von Piacere (dem Vergnügen) darin bestärkt, vor allem Lust und Freude zu genießen. Als Spielverderber treten auf: Tempo (Zeit) und Disinganno (Erkenntnis), die die junge Belezza daran erinnern, wie vergänglich gutes Aussehen ist und dass das Grab keine Schönheit mehr kennt.

Händel hat dazu funkelnde, herrliche Arien geschrieben, mit Zeitlupen-Koloraturen, Sonatas und zwei Quartetten – Musik, die auch durch Einfachheit anrührt, etwa bei Disingannos Auftrittsarie, die von einem schlichten, chromatisch fallenden Cellothema begleitet wird. Countertenor Iestyn Davies singt sie mit gebrechlicher Zartheit.

Die Philharmoniker spielen auf modernen Instrumenten

Die Philharmoniker sind natürlich kein Originalklangensemble, sie spielen auf modernen Instrumenten, mit modernem Musikverständnis. Da wird nichts gekappt, sondern dramatisch zugespitzt, scharf und kristallinklar ist der Strich. Emmanuelle Haïm hat eine spezielle Gestik, manchmal extrem präzise und ausgeformt, manchmal zuckt sie nur ein bisschen mit den Schultern, aber die Philharmoniker scheinen immer zu wissen, was sie will. Ein kurioses Problem für die Französin ist die widerspenstige Sitzbank vor ihrem Cembalo, sie wird gebraucht und ist doch beim Dirigieren ständig im Weg.

Julia Lezhneva als Piacere kann ihre Sopran-Kollegin Elsa Benoit (Bellezza) nicht halten, Disinganno und Tempo (Tenor Anicio Zorzi Giustiniani) ziehen sie auf ihre Seite. Auch Piaceres melancholische Arie „Lascia la spina“, deren überirdische Schönheit Händel veranlasst hat, sie Jahrzehnte später in „Rinaldo“ wiederzuverwenden, kann daran nichts mehr ändern: Die Party ist vorüber.

„Il trionfo“ fasziniert als historischer Screenshot aus dem barocken Rom, doch seine Moralität fordert einen als Menschen des 21. Jahrhunderts heraus. Wir kommen aus der Dunkelheit, wir gehen in die Dunkelheit, dazwischen ein kurzer Blitz: das Leben. Ohne die Vergänglichkeit zu verdrängen: Warum sollte man sich kontinuierlich mit dem Ende beschäftigen und dadurch die besten Jahre verderben?

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