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Tim Renner und der Streit um die Volksbühne: Was für ein Theater wollen wir?

Entweder hat sich Tim Renner verschätzt oder er ist der coolste Hund, der je in Berlin Kulturpolitik angefasst hat. Er will die Volksbühne zum Raumlabor des 21. Jahrhunderts machen - und erntet dafür pure Entrüstung. Er hätte es besser kommunizieren müssen.

Ob er etwas vom Theater versteht oder nicht – Tim Renner trifft den Nerv. Der Kulturstaatssekretär steht im Epizentrum eines Krachs, wie ihn Berlin seit der Liquidierung des Schillertheaters nicht erlebt hat. Eigentlich muss er bloß einen Intendantenposten neu besetzen, und es gibt auch nicht nur eine Bühne in der Stadt. Aber es gibt nur eine Volksbühne. Und an ihr hängt, so sieht es aus, die Zukunft des Theaters.

Beim Schillertheaterkrieg 1993 ging es um den Bestand von Häusern und Ensembles in Ost und West, um das Zusammenwachsen und die Aufteilung der Ressourcen einer Stadt, die sich in einer Versuchsanordnung namens „Deutsche Einheit“ wiederfand. Zu jener Zeit begann der fabelhafte Aufstieg der Volksbühne mit ihrem Anführer Frank Castorf zur ostgepolten Weltbühne. 2017 nun wird Castorf, nach einem Vierteljahrhundert, sein Amt abgeben müssen an den momentan in London tätigen Kurator Chris Dercon.

Die Volksbühne als Berliner Raumlabor

Renners Idee in Umrissen: Die Volksbühne soll zum Raumlabor Berlin im 21. Jahrhundert werden. Schauspiel passt auch hinein, aber vor allem Performance, Tanz, Visuelles, Schnelles. Das gab es da auch vorher schon. Und wenn sich die Castorf-Truppe im Prater oder im Palast der Republik neue Spielplätze suchte, träumt Renner vom Flughafen Tempelhof als Location für die Air Volksbühne.

Eventquatsch! Ensemblevernichtung! Die Theatergrößen haben sich auf Tim Renner und seinen wortkargen Chef Michael Müller eingeschossen. Die meist schon etwas älteren Männer in den Intendanzen finden leicht ihr Ziel. Ängstlich und konfus wirken die Kulturstrategen im Senat. Der Regierende Bürgermeister macht den Eindruck, als erlebe er das ihm zugefallene Amt des Kultursenators als Last. Und das in der Kulturmetropole

Hat sich Tim Renner verschätzt? Oder ist er ein cooler Hund?

Berlin mag ein Tummelplatz von Innovativen und Superkreativen sein, jung und frisch. Aber die Theaterszene, für die Deutschland in der Welt zu Recht beneidet wird, lebt in jahrzehntelang gewachsenen Strukturen. Sie entwickelt einen mächtigen Zusammenhalt, wenn es an die Substanz geht. Hier gilt Tradition am Ende so viel wie Dekonstruktion.

Da hat sich Tim Renner, der große Kommunikator aus der Popbranche, verschätzt. Oder ist er der coolste Hund, der je in Berlin Kulturpolitik angefasst hat? Dann könnte er das Beben genießen und als Indiz dafür nehmen, dass etwas geschehen muss in der Theaterlandschaft. Wofür einiges spricht. Nur: Jetzt muss er schnell mal seine Karten auf den Tisch legen und erklären, was aus der Volksbühne und ihren Künstlern werden soll, wohin die Reise geht. Doch er zögert, weicht aus, lässt sich beschimpfen.

Was für ein Theater wollen wir?

Es ist ja immer noch nicht vollständig auszuschließen, dass Renner eine aufregende Lösung für die emblematische Bühne findet – worum sich seine Vorgänger gedrückt haben. Dann könnte man ernsthaft die Frage diskutieren, die hinter all dem steht, ästhetisch und politisch: Was für ein Theater wollen wir? Und wo?

Tim Renner hat, wie Goethes Zauberlehrling, starke Kräfte freigesetzt. War ihm das vorher klar? Hat er mit Intendanten, Regisseuren, Festivalchefs und der Freien Szene gesprochen, die unmittelbar betroffen sind von den Veränderungen an der Volksbühne? Hat er sich beraten mit dem Bund, der sehr viel Geld gibt für die Kultur in Berlin? Ist das koordinierte Politik, denkt er den angestoßenen Prozess zu Ende? Im Moment lautet die Antwort: Nein.

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