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Tim Renner und Chris Dercon (rechts) im September 2014 bei einer Vernissage in Berlin.

© adolph press/HERCHER

Chris Dercon soll Volksbühne übernehmen: Der Umkrempler

Kunst und Kurator: Chris Dercon soll die Berliner Volksbühne übernehmen. Kritiker befürchten, dass mit ihm öde Eventkultur Einzug hält. Wer ist der Mann, der jetzt für so viel Theaterstreit sorgt?

Ein Kurator als Intendant, was soll denn das? Chris Dercon, noch Direktor der Tate Modern in London, soll Frank Castorf als Chef der Volksbühne beerben. Schon das Gerücht ließ die Theaterstadt Berlin erschaudern. Und nun steht die Bekanntgabe dieser weitreichenden Personalentscheidung kurz bevor.

Interessant zu wissen: Chris Dercon hat neben Kunstgeschichte auch Theaterwissenschaft und Filmtheorie studiert. Und Tim Renner spricht davon, Dercon ausgewiesene Theaterleute an die Seite zu stellen. Genügt das?

Dercon, hoch gewachsen und selbstbewusst, ist an den Erfolg gewöhnt, man sieht ihm das an. Er fällt auf, wo immer der 56-Jährige mit dem weißgrauen Schopf auftaucht. Es liegt aber auch an seiner Präsenz. Nach dem Studium in Amsterdam und Leiden hat Dercon, gebürtiger Belgier, eine Weile lang als Radiojournalist gearbeitet und Künstler porträtiert.

Das schnelle, zugespitzte Formulieren fällt ihm mindestens so leicht wie eingängige Statements. Etwa: „Wir sind sexy, weil wir langsam sind. Ich sage Ihnen: Die Langsamkeit von Museen nimmt kein Ende!“ So beschrieb er 2010 in einer Zeitung die Chancen, die in der Finanzkrise für kulturelle Institutionen steckten. Sätze, in denen Dercon viel Wahres über sich verrät. Die aber auch kokett und berechnet sind.

Dercon spricht mehrere Sprachen, hat unzählige Texte für Ausstellungskataloge verfasst und räumt anderen Disziplinen wie Film, Theater, Design und Mode einen ebenbürtigen Platz neben der Bildenden Kunst frei.

Und dann kommt wieder dieser abschreckende Begriff: Kurator. Das Wort impliziert ja längst schon eine ironische Distanzierung, weil alles bis zur Ware in Design-Boutiquen inzwischen kuratiert wird. Er zeigt aber auch das Problem, wenn alles stets möglichst griffig zugespitzt werden soll. Dercon ist vieles zugleich.

In München ließ er erstmal das Haus der Kunst kritisch rückbauen

1988 ging er für zwei Jahre als Programmdirektor an das Institute of Contemporary Art P.S.1 nach New York. Die ehemalige Schule, die damals noch nicht mit dem Museum of Modern Art (MoMA) kollaborierte, galt als erste Adresse für experimentelle Ausstellungen. Und Dercon fügte dem Programm mit Einzelpräsentationen des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica, von Franz West oder Paul Thek eigene Akzente hinzu. 1990 ging er nach Rotterdam, erst an das Witte de With, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst. Sechs Jahre später wechselte er als Direktor des Museum Boijmans Van Beuningen an die erste große Institution.

Als Dercon 2003 nach München an das Haus der Kunst kam, hatte er es anfangs auch nicht leicht. Sein Vorgänger Christoph Vitali genoss viel Sympathie, auch weil ihn der damalige bayerische Kunstminister Hans Zehetmair brutal aus dem Amt befördert hatte. Der wolle einen jüngeren, interessanteren Ansatz, hieß es damals. Zehetmair bekam ihn, wenn auch vielleicht nicht ganz wie von ihm erwartet. Denn Dercon widmete einen Teil seiner Aufmerksamkeit erst einmal dem von den Nationalsozialisten errichteten Haus. Künstler wie Ai Weiwei, aber auch die Architekten Zaha Hadid und Rem Koolhaas haben sich intensiv mit der monumentalen Architektur auseinander gesetzt. 2003 ließ der Museumschef im Zug des Projekts „Kritischer Rückbau“ einen Teil jener Maßnahmen rückgängig machen, mit denen das Gebäude zuvor sukzessive „architektonisch entnazifiziert“ worden war.

Die nächste Karrierestufe: Tate Modern in London

Sein Respekt vor der Geschichte, aber auch vor den konzeptuellen Leistungen eines Modelabels wie dem Maison Martin Margiela, Dercons Freundschaft zu Christoph Schlingensief, der mehrfach mit Performances in München gastierte, und Ausstellungen wie „Made in Munich“ (2011), in der die Arbeit der Münchner Galerien ab den sechziger Jahren bis in die Gegenwart mit Werken von Georg Baselitz, Blinky Palermo, Hermann Nitsch oder Gerhard Richter gefeiert wurden, bereiteten den Weg für die nächste Karrierestufe. Als der Wechsel nach London für 2012 öffentlich wurde, weinte man dem „mutigen Umkrempler“ nach, der ein ebenso breites wie junges Publikum mit inhaltlich anspruchsvollen Projekten für das Haus der Kunst gewinnen konnte.

Und drei Jahre später fragt man sich verwundert, weshalb Dercon ein Haus wie die Tate Modern mit sechs Millionen Besuchern und einem Etat von 87 Millionen Pfund jährlich für ein Berlin aufgeben will, das ihm so kritisch begegnet. Vielleicht ist es das angelsächsische System der Finanzierung von Museen, das auf die Dauer jeden ermüdet, der inhaltlich fokussiert arbeiten möchte. Bald muss er nämlich feststellen, dass Mäzene und Sponsoren, ihre Sorgen oder Ansprüche, in Großbritannien wie den USA eine ungleich dominantere Rolle spielen als in jenen staatlich subventionierten Häusern, die eine europäische Metropole wie Berlin immer noch zu bieten hat.

Daran hängen freilich Ensembles und Gewerke. Ein Theater ist anders organisiert als ein Museum, selbst wenn es sich noch so offen gibt auch für Perfomatives. Chris Dercon steht dem modernen Tanz nahe, das ist eine belgische Spezialität. Wie überhaupt dieses kleine Land in den letzten Jahrzehnten Künstler und Kuratoren hervorgebracht hat, die Medien mischten und Grenzen einrissen. Aber auch wenn der belgische oder besser flämische Stil überall in Europa Spuren hinterlassen hat, die Bühnen in Deutschland sind anders aufgebaut, haben eine andere Geschichte. Grundsätzlich wird in Belgien und Holland freier produziert, es gibt dort nicht die deutsche Kultur der stehenden Stadt- und Staatstheater.

Das befürchten die Kritiker von Dercon und Renner. Dass Bastionen und Traditionen geschleift werden. Dass da grundsätzlich etwas nicht passt.

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