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Ivan Perić spielt in „Through the Graves the Wind Is Blowing“ einen Kommissar, der vergeblich versucht, eine Mordserie aufzuklären.

© Travis Wilkerson

Travis Wilkersons Kroatien-Film auf der Berlinale: Alle hassen die Touris

In seinem Encounters-Beitrag „Through the Graves the Wind Is Blowing“ schlägt der US-Regisseur Travis Wilkerson eindrucksvolle Bögen von der kroatischen Geschichte in das Split der Gegenwart.

Weil er weder als Fischer noch in der Tourismusbranche arbeiten wollte, ging Ivan Perić nach seinem Psychologiestudium zur Polizei. Jetzt soll er in seiner Heimatstadt Split mehrere Morde an ausländischen Touristen aufklären. „Ich bin wohl doch im Tourismus gelandet“, sagt er in die Kamera des US-Filmemachers Travis Wilkerson, für den er unter seinem echten Namen die Rolle dieses lakonischen Inspektors spielt.

An den angeblichen Tatorten trägt er vor – stets mit einem kleinen schwarzen Notizbuch in der Hand, was über die jeweiligen Opfer und Tathergänge bekannt ist. Der Italiener Fabio wurde von einem Turm geschubst, der Österreicher Michael von einem Speer durchbohrt … die Berichte des Inspektors bilden die fiktionale Ebene des vielschichtigen Essayfilms „Through the Graves the Wind Is Blowing“, mit dem der Regisseur seinen zeitweiligen Wohnort Split sowie die kroatische Geschichte erkundet.

Wie schon in früheren Werken wie „Did You Wonder Who Fired the Gun?“ (2019) mischt Wilkderson Historisches mit Persönlichem – und stellt sich gleich in der ersten Szene mit Namen, Alter und Gewicht vor und gesteht, dass er eigentlich einen Film über den Zerfall Jugoslawiens geplant hatte. Stattdessen sei nun dieser entstanden.

Benannt nach einer Zeile aus dem dank Leonard Cohen bekannt gewordenen Song „The Partisan“, blickt der Film auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück, als es erstmals ein unabhängiges Kroatien gab, ein Vasallenstaat von Nazi-Deutschland. Dabei thematisiert er die dort vor allem an der jüdischen und serbischen Bevölkerung begangenen Verbrechen der Ustascha, ebenso den Widerstand der Partisanen.

Wilkerson spricht lange Off-Texte, die er mit ruhigen Aufnahmen aus der Stadt kombiniert, etwa mit verschiedenen Ansichten von Partisanendenkmälern. Als er zum Horror von Jasenovac kommt, dem größten Vernichtungslager der Region, flimmern rote Schlieren und Kreisformen auf weißem Hintergrund. So macht Wilkerson sich einen Reim auf das Schachbrettmuster der Ustascha-Flagge.

Dieses nur minimal variierte Muster findet sich bekanntlich auch der Fahne des heutigen Kroatiens, zu dem der 1969 in Denver geborene Regisseur immer wieder Verbindungslinien zieht. Etwa, wenn er die Wandlung des Fußballclubs Hajduk Split vom wackeren Partisanenteam zu einem von rechten Hooliganhorden dominierten Verein nachzeichnet. Sein Resümee: „Split ist Hajduk und Hajduk ist Split“, weshalb es nicht verwundert, dass die Stadt übersät ist von Hakenkreuzen und dem Ustascha-U mit einem Kreuz darüber. In seiner eigenen Nachbarschaft zählt Wilkerson bei einem 26-minütigen Spaziergang mehr als 200 Neonazi-Zeichen.

Graffitis und Streetart spielen eine wichtige Rolle in seinem eleganten Schwarz-Weiß-Film, der fast kein Auge für die historischen Sehenswürdigkeiten von Split hat, und umso mehr für die inzwischen leer stehenden und vollgesprühten Brutalismusbauten aus jugoslawischer Zeit. Eine Collage von Murals visualisiert den serbisch-kroatischen Krieg, inklusive fragwürdiger Helden und einem gramgebeugten Papst Johannes Paul II. Die Stadt an der Adria wirkt richtiggehend unsympathisch, überhaupt nicht mehr wie ein sonniger Sehnsuchtsort.

„Through the Graves the Wind Is Blowing“ und Birgitte Stærmoses starke Kosovo-Doku „After War“ (Forum) sind die einzigen Langfilme der 74. Berlinale über einen der Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Sonst waren Produktionen aus diesen Ländern präsenter, nach Bosnien gingen auch immer mal Bären. Bemerkenswert zudem, dass es diesmal zwei ausländische Perspektiven sind, zwei auch formal eindrucksvolle Werke.

Bei Wilkerson sorgt Ivan Perić, der Englisch spricht, mit seinen trockenen, abgedrehten Mordgeschichten für eine gewisse Auflockerung. Wobei er in seinen Monologen auch Probleme wie das Versagen von Behörden und das unflätige Verhalten betrunkener Urlauber verhandelt. Warum er die Morde nicht lösen kann? „Everybody hates the tourists“, sagt er.

Und so hat Travis Wilkerson seinem einstigen Wohnort – er ist mittlerweile mit seiner Familie nach China gezogen – mit dem Film vielleicht sogar einen unbeabsichtigten Dienst erwiesen: Wer ihn gesehen hat, überlegt sich sicher dreimal, ob Urlaub in Split eine gute Idee ist.

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