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Lokita (Joely Mbundu) und Tori (Pablo Schils) sind unzertrennlich, aber das europäische Einwanderungsgesetz behandelt sie nicht gleich.

© Cinejoy Movies

„Tori & Lokita“ im Kino: Die Unmenschlichkeit Europas

Jean-Pierre und Luc Dardenne sind die großen Humanisten des europäischen Arthousekinos. Ihr Migrationsdrama „Tori & Lokita“ lebt von seinen jungen Hauptdarstellern.

Von Andreas Busche

Der Blick in ein Kindergesicht ist entwaffnend. Nur wenige verstehen diese emotionale Klaviatur so zu bespielen wie die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die seit fast 50 Jahren – anfangs noch mit Dokumentarfilmen – ihr humanistisches Kino perfektioniert und zuletzt auch immer stärker formalisiert haben.

Es lässt sich im Prinzip in zwei filmischen Gesten zusammenfassen: die extreme Nahaufnahme auf Gesichter und ihr Gegenpart, der sogenannte tracking shot, bei dem die Kamera den Protagonisten folgt. Bei den Dardennes hängt die Kamera stets an den Fersen der Figuren, die Rückansicht ist die definitive Einstellung im Kino der Brüder. Sie beschreibt eine Fluchtbewegung. Im Angesicht sieht man ihre Protagonist:innen nur, wenn die Bilder eine emotionale Reaktion evozieren sollen.

Das Hinsehen ist politisch

Auch in „Tori & Lokita“ ist dieser Blick konstitutiv. Das (Hin-)sehen bedeutet bei Jean-Pierre und Luc Dardenne einen politischen Akt, auch wenn die Politik in ihren Filmen stets im Hintergrund bleibt. Im Vordergrund steht der Mensch. Zu Beginn hält die Kamera gut zwei Minuten auf das Gesicht der 16-jährigen Lokita (Joely Mbundu), während sie von einer Einwanderungsbeamtin befragt wird. Es geht um ihr Verhältnis zu dem zwölfjährigen Tori (Pablo Schils), als dessen Schwester sie sich ausgibt.

Kennengelernt haben sich die beiden Teenager als unbegleitete minderjährige Geflüchtete auf ihrer Route von Afrika nach Europa. Aber während der Junge als sogenanntes „Hexenkind“ in seiner Heimat Benin um sein Leben fürchten muss, will Lokita einfach „nur“ ein besseres Leben in Europa: eine Aufenthaltsgenehmigung, damit sie als Haushaltsgehilfin arbeiten und mit dem Geld ihrem kleinen Bruder zuhause die Schule finanzieren kann. Für Tori übernimmt sie ebenfalls die Rolle der großen Schwester: Auch er soll zur Schule gehen und nicht für den windigen Betim (Alban Ukaj) Drogen verticken.

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Die Kamera der Dardennes (zum ersten Mal: Benoît Dervaux) ist mehr Seismograf als Gestaltungsmittel. Lokita bricht unter den Fragen der Beamtin schließlich in Tränen aus, die Behördengänge sind eine Fortsetzung ihrer Fluchterfahrung über das Mittelmeer. Es ist das erste Mal, dass die Brüder die Entrechteten des globalen Südens in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellen. „Tori & Lokita“ verschiebt die Perspektive auf die Ungerechtigkeit in den westlichen Industriegesellschaften auf zwei Menschen, die außerhalb unserer Rechtsprechung stehen.

Nichts bleibt ihnen erspart

Damit ändern sich auch die moralischen Fragen, die mit diesem Unrecht einhergehen. Das komplexe Problem der Migration berührt der Film aber nicht mal am Rande, was „Tori & Lokita“ gerade verdaulich genug für das europäische Arthousekino macht. In Cannes gewannen die zweimaligen Palmengewinner damit im vergangenen Jahr einen aus dem Nichts hervorgezauberten „Sonderpreis“: wohl, weil es sich heutzutage irgendwie gehört, einen Film mit dieser Thematik auszuzeichnen, auch wenn es keine offensichtlichen künstlerischen Meriten zu holen gibt.

Ist es zynisch, so über einen Film zu werten, der mit seinen beschränkten Mitteln doch nur das Beste will? Wo man gerade jetzt über jeden Film froh sein sollte, der Partei für die Schwachen und Rechtlosen ergreift. Auch auf dem Venedig Filmfestival wurden im September gleich zwei Fluchtdramen ausgezeichnet.

Lokita (Joely Mbundu) und Tori (Pablo Schils) sind gemeinsam in Europa angekommen.
Lokita (Joely Mbundu) und Tori (Pablo Schils) sind gemeinsam in Europa angekommen.

© Cinejoy

Oder grenzt es – im Gegenteil – an Zynismus, zwei Kinder durch die Höllenkreise einer Migrationserfahrung zu schicken, die von Minute zu Minute eine noch etwas schlimme Unmenschlichkeit bereithält? Der Preis der moralischen Ermächtigung ist für Tori und Lokita hoch: Damit sie zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte werden, müssen sie einiges erdulden. Nichts bleibt ihnen erspart.

Empathie geht vor Moral

Als sie herausstellt, dass Lokita die Aufenthaltsgenehmigung verwehrt bleibt, bleibt ihr keine andere Wahl, als den Weg der Illegalität zu wählen. Für einen gefälschten Pass von Betim muss sie in einem unterirdischen Bunker Cannabispflanzen pflegen, die sie mit Tori verkauft hat; das Handy wird ihr abgenommen. Der Junge ist auf sich allein gestellt, allerdings nicht auf den Kopf gefallen. Tori macht Lokita ausfindig, aber da hat ihre Freundschaft längst all ihre Unschuld verloren: Der Sozialrealismus weicht einer Fernsehkrimi-Ästhetik. Und das Lied, das die beiden zusammen im Dunkeln singen, spendet keinen Trost mehr.

Trost zu spenden ist eine Funktion, die das Kino heute immer öfter erfüllen muss. Aber ein Happy-end würde sich für „Tori & Lokita“ verlogen anfühlen. Diese Art von Wohlfühlkino haben die Dardenne-Brüder nie gemacht, das Publikum soll mit ihren Figuren mitleiden: ein Kino des schlechten Gewissens. Am Ende ist es immer wieder ihren jungen Schauspielerinnen und Schauspielern zu verdanken, so wie den Entdeckungen Joely Mbundu und Pablo Schils, dass die Moral nicht die Empathie überwältigt.

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