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Bei der Arbeit in seinem Verlagsgebäude: Gerhard Steidl, 1950 in Göttingen geboren.

© Kiyotaka Hatanaka

Ein Porträt des Verlegers Gerhard Steidl: Kunst und Technik

Hier wird das Grass-Werk betreut, hier gehen Künstler wie Damien Hirst oder Jim Dine ein und aus: Ein Besuch bei dem Verleger Gerhard Steidl in Göttingen.

Es ist kurz nach elf an diesem kühlen Sonntag in Göttingen, und auf dem Smartphone-Display leuchtet die Festnetznummer von Gerhard Steidl auf: „Finden Sie es nicht?“, fragt er etwas ungeduldig. Die Verabredung war, sich zwischen elf und zwölf bei ihm im Verlagshaus zu treffen.

„Doch, doch ich stehe direkt vor der Tür, Düstere Straße, Hausnummer 4“. „Gut, dann mache ich auf, Sie müssen die Treppe hoch“, sagt er und erwartet einen am Türeingang. Steidl trägt einen weißen Kittel, Jeans und helle Sportschuhe, auf dem Kittel links ist die Brusttasche wie ein Buch gemustert, darin ein paar Zeichenstifte.

„Wenn ich meine Berufsbezeichnung angeben muss“, wird er im Verlauf dieses Sonntags irgendwann sagen, „dann schreibe ich immer zuerst Drucker und als zweites Verleger. Weil die Druckarbeit für mich so spannend ist und so viel Spaß macht. Ich bin ein Techniker, der einiges Know-how hat, um die Ideen der Künstler handwerklich umzusetzen.“

Die Literaturbranche nimmt ihn in der Regel zuerst als Verleger wahr, der von ihm Ende der sechziger Jahre gegründete Verlag trägt seinen Namen. Und, vor allem: Bei Steidl erscheint das Werk eines der weltberühmtesten deutschen Schriftsteller, das des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass.

Steidl und Grass, das ist fast ein Synonym, so viele unterschiedliche Ausgaben hat der Göttinger Verlag von Grass’ Büchern oder über dessen Werk und Person herausgegeben.

In diesen Tagen erscheint eine 24-bändige Grass-Werkausgabe

In diesen Tagen sind es „Büchermachen mit Günter Grass. Werkstattbericht 1986–2021“, Viktoria Krasons Untersuchung „Auseinandernehmen und Zusammensetzen. Günter Grass und die bildende Kunst“ und allen voran die von den Literaturwissenschaftlern Dieter Stolz und Werner Frizen betreute neue, 24-bändige Grass-Werkausgabe.

An deren Ausstattung hat der 2015 verstorbene Schriftsteller noch maßgeblich mitgewirkt und Schriftgröße, Format und Inhalt bestimmt. Sie besteht aus leinengebundenen, roten Büchern in einer handgefertigten Holzkassette. Auch welche Bücher dauerhaft als Print erscheinen sollen, hat er mit Grass festgelegt, „das habe ich ihm versprochen, daran halte ich mich!“

Dass das Grass-Werk nur einen kleinen, gar nicht so bedeutenden Teil des Steidl Verlags ausmacht (und der Verleger sagt: „Das ist finanziell ein gewaltiges Abenteuer, so eine Werkausgabe“), wird schon deutlich, als Steidl vor dem Gespräch im sogenannten Bibliothekszimmer (das eher wie ein Konferenzraum wirkt) zunächst zu einer Führung durch sein „Imperium“ einlädt, ein Begriff, der übertrieben erscheint.

Doch das Verlagsgelände mutet wirklich wie ein solches an. Von einem kleinen Balkon in der dritten Etage des Hauses aus kann man nach hinten schauen, auf die Rückseite der Nikolai-Straße. Hier haben der Literaturherbst und das Literarische Zentrum Göttingen ihre Büros (und soll demnächst ein Literaturhaus seine Heimat finden), hier gibt es in einem anderen Haus Gästezimmer, hier hat der Pop-Art-Künstler Jim Dine sein Atelier.

Unten liegt die verlagseigene Druckerei, rechts davon ist in der Turmstraße die Einfahrt für die LKWs, die das Papier anliefern: „2500 Tonnen schleppen wir hier jährlich ein und aus und durch die Innenstadt“, sagt Steidl. Um die Ecke, auf dem Platz vor der Nikolaikirche, befinden sich Steidls Wohnhaus und eine Buchhandlung.

Vorne, gewissermaßen am Haupteingang in der Düsteren Straße, stehen neben dem eigentlichen Verlagshaus ein kleineres Gebäude mit dem Grass-Archiv, ein weiteres Gästehaus, das sogenannte Halftone Hotel, und schließlich das Kunsthaus, das noch im Bau ist und ab kommendem Jahr Ausstellungen mit Arbeiten auf Papier, Fotografie und neue Medien zeigen soll.

Auf einmal steht Jim Dine in der Tür, ein stämmiger Typ, Glatze, trotz seiner 85 Jahre sehr vital wirkend. Dine ist gerade aus Paris gekommen, informiert sich über die Bestimmungen für einen Corona-Test und fragt Steidl nach dem von ihm angeforderten Holzbrenner. Steidl packt ihn aus, und dann geht es erstmal mit Dine in ein Holzhaus inmitten des Verlagsquartiers.

Jim Dine hat auf dem Verlagsgelände sein Atelier

Hier stehen fünf Skulpturen, vier Frauenfiguren, die die Sirenen darstellen sollen, gefertigt aus 400 Jahre alten Eichenstämmen, dazu ein großer weißer Gips-Kopf, der unübersehbar Jim Dine nachgebildet ist: ein Selbstporträt. Nachdem die Frauenskulpturen in Dine-Ausstellungen in Los Angeles und Rom zu sehen waren, hat Steidl sie sich gesichert. Sie sollen in Form dieser Installation in dem Holzhaus dauerhaft in Göttingen zu sehen sein. Dine will nun die Eingangstüren des Hauses mit Versen versehen, deshalb der Holzbrenner.

Nachdem beide sich für den Nachmittag verabredet haben, geht es in die Druckerei. Wer erstmals hier ist, dürfte sich leicht verirren, alles wirkt labyrinthisch, in den engen, geduckt wirkenden Häusern in der Altstadt von Göttingen. Düstere Straße – das passt schon auch.

Steidl gibt gern Auskünfte, technische, für Laien nicht immer sofort verständliche, aber auch über seine Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern. In einem Vorraum der Druckerei liegen Bögen für den gerade veröffentlichten zweiten Orhan-Pamuk-Fotoband, „Orange“; in einem weiteren Raum sticht ein Kasten ins Auge, auf dem handgeschrieben der Name Damien Hirst prangt, darunter die Worte „Pharmacy, London“.

Der türkische Literaturnobelpreisträger, erzählt Steidl, habe sein Leben lang fotografiert. Orhan Pamuk wollte eigentlich Fotograf werden, kennengelernt haben sie sich über Ali Raif Dinçkök, einen Istanbuler Kunstsammler. Dieser ließ seine Sammlung fotografieren und von Steidl in acht Bänden in einem Holzschuber veröffentlichen.

Als sie überlegten, wer das Ganze begleiten und kommentieren könnte, kamen sie auf Pamuk, der dann nicht nur zusagte, sondern auch selbst mit dem Göttinger Verleger ins Gespräch und ins Geschäft kam. Damien Hirst wiederum wandte sich mit einem extravaganten Projekt an ihn: Hirst hat die Apotheken Londons abgelichtet, laut Steidl rund 4000. Geplant ist eine zehnbändige Ausgabe mit diesen Fotos.

Nur, so berühmt und supererfolgreich Damien Hirst ist: zehn Bücher mit Fotos von den Apotheken Londons? Lohnt sich das? Verkauft sich das? „Man muss das Geld oben zum Fenster rausschmeißen und irgendwann kommt es durch die Eingangstür wieder zurück“, sagt Steidl, das habe ihm Karl Lagerfeld mit auf den Weg gegeben.

"Ich kalkuliere nie ein Buch"

. „Ich kalkuliere nie ein Buch. Daran denke ich nicht. Ich mache es, so gut ich kann, für den Künstler, für mich, dann kostet es hinterher, was es kostet."

Natürlich hat es gebraucht, bis Steidl sich so eine Einstellung leisten konnte. Er gibt zu, dass es früher durchaus Rückschläge gab, er inzwischen aber – trotz Corona könnte 2020 das beste Jahr des Verlags werden – keinesfalls größer werden will: 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat der Verlag, danach werde es unüberschaubar, meint Steidl.

Die Hälfte seiner Umsätze macht er in den USA und Kanada. Von einem Band wie Robert Franks „The Americans“, 2008 erstmals erschienen, werden jährlich 20 000 bis 40 000 Exemplare verkauft.

Der 2019 verstorbene Modeschöpfer Karl Lagerfeld war es, der Steidl animierte, das Fotobuchprogramm auszubauen. Mit Lagerfeld veröffentlichte er 1993 dessen Fotoband „Off the record“. Beide gründeten zusammen zwei Steidl-Imprints, die Edition 7 L, für visuelle Bücher, und L.S.D., abgekürzt für Lagerfeld, Steidl, Druckerei Verlag, mit von Lagerfeld ausgewählter englischer und französischer Literatur in deutscher Übersetzung.

Lagerfeld vermittelte Steidl Aufträge bei Chanel, und regelmäßig arbeiteten sie am Wochenende eng zusammen. „Samstags fange ich später an, um sieben Uhr, da lag hier meist schon ein zwölfseitiges Fax mit Skizzen“, erinnert sich Steidl. „E-Mails schickte Lagerfeld nie, sondern Briefe, die er mit dem Handy fotografierte und mir weiterleitete. Ich habe die mir ausgedruckt. Um halb acht rief er an, dann ging es los mit unserer sozusagen privaten Arbeit.“

Dass er am Wochenende „später“ anfängt, ist kein Scherz. Unter der Woche steht er um halb fünf auf, um pünktlich zum Schichtwechsel in der Druckerei zu sein. Tatsächlich versucht er das die gesamte Woche so durchzuhalten: Sein Reisetag, in der Vor-Corona-Zeit, war stets der Donnerstag, egal wohin, ob in die USA oder nach Hongkong. Freitagnacht, Samstagmorgen ging es jedes Mal zurück, was sicher nach dem Abklingen der Pandemie wieder so sein wird.

Auch das hat seinen Grund. Denn die Künstlerinnen und Künstler, mit denen Steidl Fotobände macht, reisen in der Regel sonntags an, beziehen im „Halftone Hotel“ ihr Quartier und arbeiten bis Mitte, Ende der Woche mit ihm an ihren Büchern.

Sein Credo: Ein Buch muss selbst wie ein Kunstwerk gestaltet sein

Das Credo von Steidl lautet, dass ein Buch selbst wie ein Kunstwerk gestaltet sein muss, die Qualität und das Handwerk entscheidend sind. Dazu gehört die enge Zusammenarbeit mit den Künstlern. Nicht zuletzt begründet sich sein inzwischen weltweit ausgezeichneter Ruf darauf, dass in Göttingen der gesamte Gestaltungs- und Produktionsprozess in einer Hand liegt.

Dabei ist es auf den ersten Blick gar nicht leicht, die vielen Berühmtheiten mit seiner Person zu verbinden, so wie er einem da im weißen Kittel arbeitsam und ernst gegenübersitzt, manchmal gar ein bisschen streng, manchmal aber auch sympathisch lachend.

Steidl überzeugt durch Nähe, Wissen, Expertise, Ideen und Perfektionsdrang. Als Gestalter und Drucker macht ihm niemand etwas vor. Dass Göttingen nicht gerade glamourös ist, nicht gerade urban, ist noch einmal eine andere Geschichte. Hier kam Steidl 1950 zur Welt, wuchs nicht weit von der Düsteren Straße in der Bürgerstraße auf und gründete kurz nach seinem Abitur in der ebenfalls nahen Angerstraße eine Siebdruckwerkstatt für Druckgrafik und Plakate; danach begann er mit dem Plakatkünstler Klaus Staeck zu arbeiten und gründete seinen Verlag in der Düsteren Straße.

Auf die Frage, ob er nie auf den Gedanken kam, in eine andere Stadt zu wechseln, gesteht er, bevor er alle Vorteile Göttingens aufzählt: „Ich wäre gern woanders hingegangen“.

Er erzählt, wie ihm Joseph Beuys, mit dem er von seinen Anfängen bis zu dessen Tod 1986 zusammenarbeite, in Siebzigern anbot, nach Düsseldorf zu kommen. Beuys hatte „tolle“ Räume in der Altstadt gefunden: „Ich war mit einem Maler da und fragte, was es kostet, die Wände weiß zu streichen. Der antwortete: die Räume, weiß? Vergiss’ es, Junge, hier war eine Fischräucherei drin, die kannst du zehnmal weiß streichen. Die Wände werden immer wieder braun, weil das Fett in den Wänden sitzt. Und Ende. Das war der einzige ernsthafte Versuch, aus Göttingen wegzugehen.“

Also zählt Steidl die Vorteile seiner Heimatstadt auf: mitten in Deutschland, zwei Stunden vom Frankfurter Flughafen weg, das internationale Flair durch die Studenten. Und er erinnert sich, früher, lange vor der Wende, häufiger nach Berlin gefahren und in Braunschweig immer an einem Speditionsgebäude vorbeigekommen zu sein. Auf dessen Dach stand der Spruch: „Unser Standort ist Braunschweig, unser Arbeitsplatz die Welt“.

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Als er das sagt, schließt jemand die Tür der Bibliothek auf und schaut überrascht herein, ein älterer, soigniert wirkender Mann in einem langen Mantel. Steidl begrüßt ihn, „Komm rein, Manfred“, und sagt, dass es nicht mehr lang dauere. Es ist Manfred Heiting, als Buchgestalter und Herausgeber von Fotobüchern ein Kollege von Steidl.

Ihm hat die vermutlich größte Fotobuchsammlung der Welt gehört, 36 000 Bände. Sie fiel den Waldbränden in Kalifornien 2018 zum Opfer, als Heitings Villa in Malibu in einen Feuersturm geriet. Alle Bücher aber wurden vor dem Brand digitalisiert und bekommen ein neues Leben in Steidl Reprints.

Steidl erzählt noch, dass er es liebe, mit dem Besen die Druckerei auszukehren, weil er dort und unterwegs im Treppenhaus seine besten Ideen habe. Im November wird er siebzig Jahre alt, die man ihm mit seinen dunklen Haaren und seiner Agilität nicht anmerkt. Doch es stellt sich schon die Frage nach der Nachfolge.

Diese sei gut geregelt, sagt er, im Verlag wie hinsichtlich der Aktivitäten auf dem internationalen Markt. Der gesamte Betrieb sei mittlerweile in Stiftungen umgewandelt worden, jeweils eine für den Verlag, die Immobilien und die Druckerei. Er ist jetzt ein wenig in Eile, die Termine mit Heiting und Dine! Trotzdem hat er noch Zeit, seinem Gast das Kunsthaus zu zeigen. Dabei erwähnt er, wie er sich seine Zukunft vorstellt. Karl Lagerfeld, kommt er auf seinen langjährigen Partner und Freund zurück, habe auf die Frage geantwortet, wie lange er die Chanel-Kollektion machen wolle: „Ich habe lebenslänglich bekommen.“ Steidl lächelt, aber es ist ihm ernst: „Das habe ich übernommen. Das gilt auch für mich.“

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