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Die Ausstellung „Noa Eshkol. No Time to Dance“ ist im Georg Kolbe Museum Berlin zu sehen.

© Enric Duch

Israelische Künstlerin Noah Eshkol: „Nicht die richtige Zeit zum Tanzen“

Zum 100. Geburtstag der Choreografin und Künstlerin widmet ihr das Georg Kolbe Museum eine Ausstellung. In ihren Wandteppichen spiegeln sich aktuelle Krisen.

Die junge Noa Eshkol macht einen Luftsprung auf dem Dach ihrer Tanzlehrerin Tile Rössler in Tel Aviv. Das winzige Schwarzweißfoto ist im letzten Ausstellungsraum an die Wand gepinnt, umringt von vergilbten Dokumenten.

Das unscheinbare Konvolut wird beiläufig, fast versteckt präsentiert. Aber genau dies ist der Ausgangspunkt der ganzen Schau: Das Georg Kolbe Museum richtet der Tänzerin Noa Eshkol zum 100. Geburtstag eine vielschichtige und tiefgründige Retrospektive aus. Also, warum gerade hier?

Tanz war eines der Lieblingsmotive des Bildhauers Kolbe, seine bronzene „Tänzerin“ draußen im Garten des Atelierhauses brachte ihm den Durchbruch. Oft hat er Gret Palucca, die berühmte Pionierin des modernen Ausdruckstanzes gezeichnet. Im April 1933 entließ Palucca die jüdischen Studierenden und Lehrenden ihrer Dresdener Schule. Auch ihre Mitarbeiterin Tile Rössler musste gehen. In Tel Aviv eröffnete sie eine eigene Schule. Die in einem Kibbuz geborene Noa Eshkol schrieb sich ein. „Ich will, dass mein Körper wie ein zartes und vervollkommenstes Instrument sei,“ bekannte sie.

Körper als Instrument

Die von Eshkol gegründete Chamber Dance Group existiert bis heute. Letztes Jahr trat das Ensemble in den Kunstwerken in der Berliner Auguststraße auf. In Cholon, einem Vorort Tel Avivs, betreut die Gruppe auch das Archiv der 2007 verstorbenen Künstlerin. Größter Schatz sind die erstaunlichen, farbenreichen Wandteppiche.

Das Chamber Dance Quartet (Ensemble 1) tanzt „Spring“ von Noa Eshkol im Ohel Theater. Vorne: Noa Eshkol. Hinten (von li.): John G. Harries, Miral’e Sharon, Naomi Polani.
Das Chamber Dance Quartet (Ensemble 1) tanzt „Spring“ von Noa Eshkol im Ohel Theater. Vorne: Noa Eshkol. Hinten (von li.): John G. Harries, Miral’e Sharon, Naomi Polani.

© T. Brauner, 1954-1956 © The Noa Eshkol Foundation for Movement Notation, Holon, Israel 

Hunderte dieser Bildwerke hat Eshkol geschaffen. Sie begann damit, als 1973 der Jom-Kippur-Krieg ausbrach und einer ihrer Tänzer eingezogen wurde. Eshkol beschloss: „Dies ist nicht die richtige Zeit zum Tanzen.“ Einige der großformatigen Textilarbeiten leuchten jetzt im einstigen Bildhaueratelier Kolbes.

Eigentlich sind es Collagen aus Stoffresten, mit einer überbordenden Fülle von Farbtönen, Musterungen, Texturen, Geweben, ob geblümt, getupft, bestickt oder aus hauchfeinem Tüll. Nie griff Eshkol zur Schere. Sie nahm, was sie geschenkt bekam, auch Ausschuss von Textilfabriken. Kragen werden in ihren Kompositionen zu Vögeln, zu Blättern, aber immer am Rande der Abstraktion changierend zwischen Erkennbarkeit und freiem Formenspiel. Auf dem Fußboden schob sich die Künstlerin die Stoffreste zurecht. Beim Zusammennähen half das ganze Tanzensemble, ein Coworking-Projekt.

Bezug auf aktuelle Konfliktzonen

Die Wiederentdeckung der zwischenzeitlich fast vergessenen Künstlerin begann mit Sharon Lockhart. Die US-amerikanische Konzeptkünstlerin stieß auf Eshkols Schaffen, Fotoserien entstanden. So wurde auch die Leiterin des Kolbe Museums, Kathleen Reinhardt, auf Eshkol aufmerksam. Das lange geplante Ausstellungsvorhaben geriet nach dem 7. Oktober letzten Jahres allerdings in Krisen. Wie sich positionieren zum Krieg nach dem Überfall der Hamas auf Israel?

Nun hängt gleich im Entree der Wandteppich „Palestinian Vase in a Window“ von 1998. Als Fensterrechteck hat Eshkol eine komplette Kufiya, also ein Palästinensertuch samt Fransenrand, eingenäht. Davor schleudern rotgemusterte Stofffetzen Farbsplitter in alle Richtungen, wie eine Explosion. Auch andere ausgestellte Arbeiten sind mit Bezug auf aktuelle Konfliktzonen gewählt, so „Village in the Ukraine“ von 1998. Eshkols Bildteppiche erzählen globale Geschichten, gefügt aus textilem Wegwerfmaterial.

Notation für Bewegungen

Bis heute relevant sind auch die Bewegungsnotationen der Choreografin. Sogar in der Robotik kommen sie als Grundlagenforschung zur Anwendung. Eshkol hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, ein System zu entwickeln, um die Bewegungen des Körpers systematisch festzuhalten und, wie in einer Notenschrift, präzise aufzuzeichnen.

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Mathematische und architektonische Grundlagen flossen in das hochkomplexe Vorhaben ein. Ausgestellte Zeichnungen machen es anschaulich. Jeden Körperteil behandelte Eshkol wie ein eigenes Instrument in einer abstrakten Musik. Ihre Tänze haben nichts Expressives, nichts Gefühliges. Klar und nüchtern nehmen sie den Körper als das, was er ist: ein Instrument für Bewegung.

Einmal aber übernahm Eshkol einen Auftrag mit politischen Dimensionen: Zum zehnjährigen Gedenken an den Warschauer Ghetto-Aufstand schuf sie eine Massenchoreografie. Aufgeführt wurde das Stück unter freiem Himmel in einem Kibbuz, der von Überlebenden des Aufstands gegründet worden war.

Filmaufnahmen zeigen junge Menschen in gemessenen, chorischen Bewegungen. Im Werk von Gegenwartskünstlern wirkt diese bedeutungsvolle Arbeit nach: Bedrohlicher Sound übertönt die meditative Stille der Bildteppiche und Bewegungsnotationen Eshkols in der Ausstellung.

In einem Video der Künstlerin Yael Bartana marschieren ProtagonistInnen mit Waffen auf. Aber die Gewehrläufe sind zugeklebt. Auf einem Militärfriedhof werden die Mordinstrumente in ein frisch ausgehobenes Grab geworfen. „Begrabt unsere Waffen, nicht unsere Körper“ hieß die 2018 in Philadelphia aufgeführte Performance.

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