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Der Dirigent Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra in der Berliner Philharmonie.

© Fabian Schellhorn/Berliner Festspiele

„Der Duft des Glücklichseins“: Das Boston Symphony Orchestra beim Musikfest Berlin  

Der Dirigent Andris Nelsons und sein Boston Symphony Orchestra waren zu Gast in der Philharmonie. Der Pianist Jean-Yves Thibaudet hob das Publikum souverän aus den Sitzen.

Von Keno-David Schüler

Bereits die Vorspeise fällt üppig aus beim Gastspiel des Boston Symphony Orchestra beim Musikfest Berlin. Julia Adolphes „Makeshift Castle“ (2022) –„Provisorisches Schloss“ – führt die Bandbreite orchestraler Klänge am vergangenen Dienstag in der Philharmonie eindrucksvoll vor. Das Provisorische ist musikalisch in den einerseits statischen, andererseits sich beständig verändernden Energiezuständen angelegt. Adolphe kreiert ein zweisätziges Spannungsfeld von „Sandstein“ – Beständigkeit – bis „Hölzerne Glut“ – Vergänglichkeit – in eigener Klangsprache. So sind es Prozesse der Ballung oder des Zerfalls, die zwischen den eruptiven Klangwirkungen und fragiler Intimität mediieren.

Die Idee der Vermittlung zwischen diametralen Polen ist gleichermaßen für den ersten Hauptgang des Abends prägend. Serviert wird George Gershwins „Concerto in F“ für Klavier und Orchester von 1925. Wie unverwechselbar ist der Sound des Komponisten, der gern als „Symphonic Jazz“ bezeichnet wird und sich schon in der im Vorjahr entstandenen „Rhapsody in Blue“ anbahnte. Im Klavierkonzert ist dann aber die Fusion von traditionellen Elementen klassischer Musik und den aktuellsten populären Tendenzen aus Gershwins Zeit in „großer Form“ zu erleben. Aus der Partitur spricht eine individuelle Klangsprache in einer Natürlichkeit, die wohl nur jemand erlangen kann, der in beiden Welten gleichermaßen heimisch ist, überdies über Genie und Meisterschaft verfügt.

Tosender Applaus nach dem ersten Satz

Während Gershwin erst spät zu fundierter klassischer Ausbildung kam und zunächst in der Unterhaltungsbranche Fuß fasste, war es bei Jean-Yves Thibaudet andersherum. Erst spät kam der sympathische Franzose zur Beschäftigung mit Filmmusik und schließlich auch mit Jazz. Wie er selbst erklärt, habe er zwar mit 14 Jahren die „Rhapsody“ und das „Concerto“ gelernt, aber Jahre danach erst verstanden. Es bedürfe so viel mehr an kulturellem Wissen, um musikalische Fonetik mit Sinn zu füllen.

Heute jedenfalls scheint Thibaudet die Musik Gershwins wie auf den Leib geschrieben. Wie er so klanglich flexibel; mal grazil, mal auftrumpfend, aber nie ordinär; dabei immer klar und in den Saal projizierend bleibt, ist tosender Applaus nach dem ersten Satz nur verdient. Nach Thibaudet macht Gershwins Musik vor allem aus, dass sie uns „mit dem Duft des Glücklichseins“ zurücklässt. Genau das gelingt heute – auch ohne Zugabe.

Es ist ein geteilter Triumph, den das BSO und Nelsons gleichermaßen mittragen. Auch im anschließenden „Petruschka“ von Igor Strawinsky erleben wir ein hervorragend eingespieltes Ensemble, das sich sauber, aber doch warm ausspielt. Nelsons wird seinem Status als Dirigent von Weltrang vollends gerecht, indem er neben untrüglichem Gespür für formale Strukturen reichlich in musikalische Details investiert ist. Heute wird die geballte physische Plastizität in den reichen Texturen des Stückes erlebbar und noch lange über den Heimweg hinaus nachhallen.

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