zum Hauptinhalt
Sieht den Untergang voraus: Mezzosopranistin Alice Coote als Cassandra in der Philharmonie.

© Fabian Schellhorn

Fluchbeladenes Erbe: Berlioz’ „Les Troyens“ beim Musikfest Berlin

Nach dem Rückzug von John Eliot Gardiner: Wie Berlioz’ Mammutoper „Les Troyens“ doch noch zu einem Höhepunkt des Musikfests Berlin wurde.

Es gibt wohl niemanden, den diese fünfeinhalbstündige Aufführung von Hector Berlioz‘ Oper „Les Troyens“ in der Philharmonie am Ende nicht mitgenommen hätte. Und nicht wenige, die es bereits vor diesem mit Spannung erwarteten Höhepunkt des Musikfests Berlin waren. Das gewaltige Werk, das der Komponist selbst nie vollständig aufgeführt erleben konnte, geriet in die Schlagzeilen, weil sein prominentester Anwalt auf Erden die Fassung verlor.

John Eliot Gardiner schlug beim Berlioz-Festival in Frankreich einem jungen Sänger ins Gesicht. „Les Troyens“ endet niederschmetternd mit einem gewalttätigen Chor, der ewigen Hass skandiert. Wer unmittelbar danach die Hand gegen einen anderen erhebt, scheint die Kontrolle über sein Leben verloren zu haben.

Gardiner zog die Konsequenzen. Er übergab die Tournee mit „Les Troyens“ an seinen Assistenten Dinis Sousa, nun hat der 80-Jährige erklärt, bis zum Ende des Jahres alle Termine abzusagen. Er werde die Hilfe von Spezialisten in Anspruch nehmen, die er schon länger gebraucht hätte, und sich um seine „mentale Gesundheit“ kümmern. Das ist für den als aufbrausend geltenden Dirigenten und Ensemblegründer eine bemerkenswerte Aussage.

Gardiner hat nicht vor, sich als Opfer zu inszenieren und als verkanntes Genie auf seine Bio-Farm in Dorset zurückzuziehen. Hier kämpft ein großer Musiker darum, sein Lebenswerk zu retten. Und dieses Werk ist einzigartig: In mehr als einem halben Jahrhundert intensiver Arbeit hat er den Monteverdi Choir, die English Baroque Soloists und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique zu Fixsternen am Klassikhimmel gemacht.

Geht es auch ohne Gardiner?

Nun treten seine Ensembles ohne ihren allmächtigen Chef auf, der bislang auch ein Garant dafür war, neue Tourneen zu akquirieren und damit das Auskommen für die freiberuflich beschäftigten Musikerinnen und Musiker zu sichern. Dieses besondere Abhängigkeitsverhältnis fügt der Frage, die das Gastspiel von „Les Troyens“ begleitet, eine weitere Facette hinzu: Geht es ohne Gardiner?

Dabei richten sich alle Augen auf den Einspringer am Dirigentenpult. Dinis Sousa, 35, ist mit den Gardiner-Ensembles bestens vertraut, er hat erfolgreich ein eigenes Orchester aufgebaut und ist zudem als Chef- und Gastdirigent gefragt. Die Aura von Gewichtigkeit braucht er nicht, er ist ganz für die da, die ihn brauchen. Chorgruppen, Fernorchester, weit im Raum verteilte Solisten, exotische Klangmischungen und immer wieder ein gnadenlos festes Ausrufezeichen, wenn das Schicksal seinen Knoten enger zieht: Für den Dirigenten gibt es schweißtreibend viel zu tun bei „Les Troyens“.

Mit den Sängern atmend: Dinis Sousa am Pult

Sousa löst diese Herausforderungen zugewandt, wie selbstverständlich den Sängern atmend, ein Lächeln verschenkend. Und das kommt zurück: Der Monteverdi Choir trotzt vor Klangmacht und Vielfarbigkeit, das Orchestre Révolutionnaire et Romantique schwelgt in einem wundersam herb-dunklem Klang.

100
Jahre nach dem Tod des Komponisten wurde „Les Troyens“ zum ersten Mal ungekürzt aufgeführt, 1969 in Glasgow und London von Colin Davis.

Berlioz hat für seine Vergil-Oper, die vom Fall Trojas bis zum Aufbruch des Aeneas aus Karthago reicht, eine Reihe ausgefallener Instrumente vorgesehen, wie Saxhörner und antike Zimbeln. Hier kommen sie alle zum Einsatz. Am eindrucksvollsten aber bleibt die menschliche Stimme, vor allem bei den weiblichen Hauptrollen Cassandra und Dido, der unerhörten Seherin und der wütend Liebenden.

Welche kaum sagbaren Schrecken sie für die den Krieg beendet hoffenden Trojaner ahnt, weiß Alice Coote eindrucksvoll zu verkörpern. Paula Murrihy macht sich berührend auf den schmerzvollen Weg von der gefeierten Herrscherin zur verlassenen Frau. Dazwischen hat der von Göttern und Ahnen gescheuchte Aeneas naturgemäß keinen leichten Stand, Michael Spyres schenkt ihm dennoch hinreißend selbstvergessene Tenormomente.

Was Gardiner gesät hat, beschert dem Publikum reiche Ernte. Nach fünfeinhalb Stunden mit Berlioz‘ fluchbeladenen „Les Troyens“ weiß man aber auch: Ein Erbe ist nur dann wirklich eines, wenn es jemand antreten kann. Alles andere ist verbrannte Erde.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false