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„Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt.“ Damit meinte Heinrich Zille wohl Wohnungen wie diese in der Kreuzberger Ritterstraße 124, fotografiert 1913, später digital koloriert: Quergebäude, Parterre. Stube ohne Heizung,  zugleich Arbeitsraum für Konfektion.

© pa/akg-images

Aufwachsen im Berlin der Weimarer Republik: Drei lange vergessene Romane geben spannende Einblicke

Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sexualmoral, Straßenschlachten, aber auch Kinderspiele – das sind die Themen der jetzt wieder veröffentlichten Bücher.

Wenn der Volksmund und insbesondere die Berliner Schnauze sich etwa eines neuen Buchtitels annimmt und damit seine Späßchen treibt, hat der Autor oder die Autorin offenbar einen Coup gelandet. So ein Ulk setzt schließlich Bekanntheit seines Gegenstands voraus. Daher dürfte sich auch Günther Birkenfeld, Verfasser des im Frühjahr 1929 im Berliner Bruno Cassirer Verlag erschienenen Romans „Dritter Hof links“, eher gefreut haben, wenn Spottdrosseln sich bei seinem Auftauchen grinsend zuzischten: „Dritter Hof links, aber der Schlüssel hängt rechts.“

Thomas Mann fand das Buch „bitter lebensvoll“

Zwar wäre es übertrieben, das Buch als einen Bestseller der ausgehenden Weimarer Jahre zu rühmen. Aber bereits vier Wochen nach Erscheinen war eine zweite Auflage fällig, und bis 1930 waren 5000 Exemplare verkauft. Noch im selben Jahr erschienen Übersetzungen in London und New York, und an positiven Besprechungen hierzulande hatte es sowieso keinen Mangel.

„Günther Birkenfelds neues Werk ist eine ergreifend wahre Geschichte – bitter lebensvoll!“, befand sogar Thomas Mann, und als „wundervollen melancholischen Edelschmöker“ pries Else Lasker-Schüler den Roman. Die Nationalsozialisten dagegen setzten ihn 1933 auf ihre Schwarzen Listen. Für den Quintus-Verlag Grund genug, den Roman erneut herauszubringen und so zugleich an seinen 1966 in West-Berlin gestorbenen, weitgehend vergessenen Autor zu erinnern.

Apropos Schlüssel: Der spielt im Roman keine Rolle. Man fragt sich sogar, ob Mutter Schwarzer, verwitwete Aufwarte- und Putzfrau, überhaupt einen Schlüssel benötigt. Irgendetwas von Wert ist weder in der Küche noch in den Wohn- und Schlafstube zu holen. Mit ihren drei Kindern – die Älteste Erna, geizig und selbstsüchtig, immerhin in fester Stellung, der 17-jährige Paul, sensibel und arbeitslos, sowie Lenchen, 15, hungrig nach Liebe und Luxus, dazu kokett bis eitel – lebt die Witwe am Rande des Existenzminimums. Die Lage verschlimmert sich noch, als die schwangere, von ihrem Liebhaber verstoßene Erna den ebenfalls arbeitslosen Emil als Ersatzvater anschleppt.

Zwei schäbige Räume gleichen einem Gefängnis

„Dritter Hof links“ – schon der Titel deutet in größtmöglicher Kürze und Präzision die damals weithin prekären Wohn- und Lebensverhältnisse in den Berliner Mietskasernen an, über die Heinrich Zille sagte, man könne einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt. Im vorliegenden Fall ist es nicht mal eine Wohnung, nur zwei schäbige Räume, einem Gefängnis gleich, dem die dort Gestrandeten nicht mehr entkommen können, sie mögen zappeln wie sie wollen.

Das Zappeln hat unterschiedliche Formen: Pauls und Lenchens von den betuchten Gastgebern gerade so geduldete, letztlich erniedrigende Teilnahme an einem Gartenfest, Pauls erotisches Abenteuer mit einer liebestollen, ihren „kleinen wilden Proleten“ rasch wieder abservierenden Dame der besseren Gesellschaft, schließlich die Verstrickung der Geschwister in inzestuöser Leidenschaft.

Diese gründet nicht in einer Selbstverliebtheit der nur ihresgleichen als Partner akzeptierenden Geschwister, wie sie Thomas Mann in seiner wenige Jahre vor „Dritter Hof links“ veröffentlichten Novelle „Wälsungenblut“ geschildert hat. Der Inzest von Paul und Lenchen hat sehr prosaische Wurzeln, keimt in sexueller Bedürftigkeit, entspringt einem erotisch aufgeladenen Abend auf dem Rummelplatz und vor allem der drangvollen Enge der Wohnung, wie die Mutter resigniert erkennt: „Wenn zu viele Menschen zu eng beieinander leben müssen, werden sie schlecht! Davon kommt das meiste Unheil unter unsersgleichen.“

Hoffnung gibt es in diesem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Armut keine. Das Leid wird ertragen, die ihm zugrundeliegende Ausbeutung erkannt, aber das Aufbegehren Pauls bleibt nur kurz und ohne Folgen: „Zerschlagen…, man sollte alles zerschlagen! Eine solche Revolution muss kommen, dass nichts mehr übrig bleibt.“ Schon bei der ersten beruhigenden Liebkosung durch die alles klaglos ertragende Mutter fällt die revoluzzerhafte Attitüde in sich zusammen.

Ein Jugendbuch wie „Emil und die Detektive“

Mit den einander verfallenen Geschwistern stehen Jugendliche im Mittelpunkt der Handlung. Der Roman lag damit voll im Trend. Die Nöte der Jugendlichen, die vielschichtiger und existentieller waren als es der Psychoanalytiker Wilhelm Reich 1932 in „Der sexuelle Kampf der Jugend“ schilderte, waren ein Hauptthema der damaligen Literatur. Dieses gemeinsame Interesse wirkt sich bis in die Handlungsorte aus. „Berlin Schlesischer Bahnhof“ hieß ein in den frühen dreißiger Jahren geschriebener Roman von Julius Berstl über fünf durchs Berlin der Weltwirtschaftskrise irrende Jugendliche. Auch Lenchens Weg in die Prostitution führt durch den Schlesischen Bahnhof, diesen Wartesaal der Hoffnungslosen.

 „Wenn zu viele Menschen zu eng beieinander leben müssen, werden sie schlecht! Davon kommt das meiste Unheil unter unsersgleichen.“

Die Mutter im Roman „Dritter Hof links“

Doch bei aller Tristesse in den späten Weimarer Jahren, in der Gesellschaft wie in der sie reflektierenden Literatur – es gab doch auch Erich Kästners „Emil und die Detektive“, erschienen 1929 und trotz aller Nöte der Titelfigur ein Optimismus ausstrahlendes Werk, das die Jugend ebenso thematisiert wie es sie – höchst erfolgreich – als Leserschaft umwirbt. In dessen Tradition, womöglich davon angeregt, steht der 1932 im Kinder- und Jugendbuchverlag D. Gundert erschienene Jugendroman „Müllerstraße. Jungens von heute“ von Ruth Rewald. Das damals erfolgreiche Buch wie seine 1906 in Wilmersdorf geborene, 1942 als Jüdin in Auschwitz ermordete Autorin sind noch stärker in Vergessenheit geraten als Günther Birkenfeld und sein Werk. Dank dem auf Wedding-Literatur spezialisierten Verlag Walter Frey liegt die Geschichte um Kurt, Geuni und die anderen „Jungens von heute“ nun wieder gedruckt vor.

„Unser Lehrer ist doof“ steht auf der Tafel – schon um 1920, als das Foto der Schule spielenden Kinder entstand, war das ein beliebter Spaß für die Jugend.
„Unser Lehrer ist doof“ steht auf der Tafel – schon um 1920, als das Foto der Schule spielenden Kinder entstand, war das ein beliebter Spaß für die Jugend.

© pa/dpa/Agentur Voller Ernst

Ihr Leben in der Weddinger Müllerstraße ist bescheiden, doch nicht hoffnungslos. In den Ferien verreisen? Für Kurt gestrichen, die auf dem Lande lebenden Großeltern müssen den arbeitslos gewordenen Onkel und dessen Familie bei sich aufnehmen. Nun den Sommer nur auf dem Bolzplatz vertrödeln? Zu langweilig. Aber auf einem Flachdach einen Garten anlegen, dazu sogar ein Theaterstück verfassen, einstudieren und gegen alle Widerstände aufführen – das ist ein wahrer Spaß, hebt die Lebensfreude und das Selbstbewusstsein. Ein Jugendbuch also mit pädagogischem Anspruch? Kann man so sehen, und nicht nur was für Jungens. Auch ein Mädchen darf mitmachen, die Liesl – wenn man so will, eine literarische Schwester von Kästners Pony Hütchen.

Stress auf den Straßen, Idylle auf dem Dach

Doch mag auch Ewalds Jugendroman tief in seiner sozialen Gegenwart wurzeln und diese im Alltag der Jugendlichen reflektieren, so blendet er doch die verheerendsten Veränderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis aus. Die grassierende Wirtschaftskrise bildet nur den vage angedeuteten Hintergrund der Handlung. Einen Dachgarten anlegen, während auf den Straßen zwischen Rot und Braun die Fetzen fliegen und Blut fließt? All dies auszusparen, mag der jungen Leserschaft geschuldet sein, sonst müsste man wohl von tendenzieller Realitätsflucht sprechen.

Als Hilfspolizisten eingesetzte SA-Männer prügeln Gewerkschaftler aus einem Berliner Gewerkschaftshaus und treiben  protestierende Zuschauer auseinander.
Als Hilfspolizisten eingesetzte SA-Männer prügeln Gewerkschaftler aus einem Berliner Gewerkschaftshaus und treiben protestierende Zuschauer auseinander.

© imago images/United Archives

Dergleichen ist Axel Eggebrecht in seinem Roman „Volk ans Gewehr. Chronik eines Berliner Hauses 1930–1934“ ganz und gar nicht vorzuwerfen. Das Buch erschien 1959 in der Europäischen Verlagsanstalt und wurde jetzt vom Berliner Jaron Verlag in seiner auf Historisches spezialisierten Reihe „Die Berlin-Bibliothek“ wiederveröffentlicht. Sein Autor, der auch als Journalist arbeitete, war von 1931 bis 1933 Bewohner der auch im Roman auftauchenden Wilmersdorfer Künstlerkolonie und später als KZ-Häftling seinem Gegenstand denkbar nahe.

Schon der einem SA-Marschlied entnommene Haupttitel verweist auf sein Anliegen: die analytische Schilderung des Weges der Deutschen in die Fänge des Nationalsozialismus. Dies geschieht am Beispiel einer Mietergemeinschaft in der Charlottenburger Herderstraße, quasi eines Querschnitts der Gesellschaft.

Dieser rote Faden wird im Laufe des Buches aber zunehmend dünner, die individuelle weicht der politischen Ebene und die Fiktion den historischen Fakten. So wird das Buch mehr und mehr zum fast dokumentarischen Tatsachenroman über den Aufstieg der Nationalsozialisten zur Macht. Seine Hauptfiguren heißen Hindenburg, Hitler, Goebbels & Co., die Bewohner des Mietshauses in der Herderstraße dagegen sinken hinab zu bloßen Statisten.

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