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Am Ende: „Von Demokratie kann man in Peru nicht mehr sprechen“, sagt Politologin Yasmin Calmet.

© Foto: ALESSANDRO CINQUE/REUTERS

Unruhen, Gewalt, Staatskrise: Was wird aus Perus Demokratie?

60 Tote bei Protesten, ein Ex-Präsident im Gefängnis und ein Parlament, das an der Macht festhält: Seit Monaten steckt Peru in einer tiefen Krise. Wie es für das Andenland weitergeht.

Brennende Straßen. Polizisten, die in die Menge schießen, während Demonstrant:innen sich hinter Mülltonnen verstecken. Bilder wie diese gingen im vergangenen Dezember von Peru aus um die Welt. Mindestens 60 Menschen sollen bei den Straßenprotesten bisher ums Leben gekommen sein.

Die Interamerikanische Menschenrechtskommission wirft den peruanischen Sicherheitskräften nun schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Deren gewaltsame Niederschlagung der Proteste könne sogar als „Massaker“ gelten, heißt es im Bericht der Kommission. Und die Straßenproteste halte weiter an.

Peru steckt seit Monaten in einer tiefen Staatskrise. Von einer Demokratie, sagt die peruanisch-brasilianische Politologin Yasmin Calmet, könne keine Rede mehr sein.

Die Proteste begannen am 7. Dezember 2022. Der damalige Präsident des Landes, Pedro Castillo, verkündete vor laufenden Kameras die Auflösung des Parlaments und verhängte einen landesweiten Ausnahmezustand. Kurz darauf entmachtete ihn das Parlament wegen „permanenter moralischer Ungeeignetheit“, die Polizei verhaftet ihn. Der Vorwurf: Castillo plante einen Putschversuch.

Wer putschte wen aus der Macht?

Seine Vizepräsidentin Dina Boluarte übernahm die Macht, installierte eine Interimsregierung und schlug Straßenproteste mit Polizeigewalt nieder. Der Vorwurf der Demonstrant:innen: Putsch. Das werfen sie aber nicht Präsident Pedro Castillo vor, sondern dem Parlament.

„Diese beiden gegensätzlichen Interpretationen der Ereignisse kommen aus unterschiedlichen Lagern. Die mehrheitlich indigene Landbevölkerung steht hinter Castillo, die städtische Elite hinter der Interimsregierung“, sagt Katherin Mamani. Sie ist Politikwissenschaftlerin und studierte an der Universidad Nacional Micaela Bastidas in Apurimac, einer ländlichen Region in Peru.

Die indigene Bevölkerung sehe Mamani zufolge in Castillo, einem Lehrer aus einer Bauernfamilie in der Provinz Chota, einen von ihnen. Ein Bruch mit der peruanischen Elite, die das Land seit Jahrhunderten regiert. „Peru ist ein sehr ungleiches Land, es gibt viel Rassismus und Diskriminierung gegenüber der Landbevölkerung“, sagt Mamani.

Der 53-jährige Linkspolitiker Castillo wollte dem ein Ende setzen und einen sozialistischen Staat aufbauen. Doch gleich zu Beginn seiner Amtszeit scheiterte er am Parlament, das fast alle seine Gesetzesvorhaben blockierte und ihm zweimal das Misstrauen aussprach. Als die Abgeordneten es ein drittes Mal versuchten, hielt Castillo seine Rede und verkündete die Auflösung des Parlaments. Die Befürworter seiner Verhaftung werten dies als einen autokratischen Schritt.

Ein Anwalt auf PR-Tour

Heute, fünf Monate später, sitzt Castillo immer noch im Gefängnis. Sein Anwalt, ein junger Argentinier, reist um die Welt, um Staatsoberhäuptern die Hände zu schütteln und mit der Presse zu reden. Ein Strafverteidiger, der eine Art PR-Tour für einen inhaftierten Präsidenten betreibt.

„Es klingt absurd, aber wir halten das für nötig“, erklärt Guido Leonardo Croxatto in einem Berliner Café. Seit ein paar Monaten verteidigt er Pedro Castillo im Ausland. Der Anwalt ist überzeugt: „In Peru wird Castillo kein gerechter Prozess gemacht werden. Er ist auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen.“

Die Amtsenthebung Castillos war verfassungswidrig.

Guido Leonardo Croxatto, Anwalt von Ex-Präsident Castillo

Deshalb trifft Croxatto sich im Namen des Peruaners mit den Präsidenten von Mexiko und Kolumbien und Abgeordneten in Berlin und Paris. Eine Vielzahl der progressiven Präsidenten lateinamerikanischer Länder haben einen Brief an UN-Generalsekretär António Guterres unterschrieben, in dem sie den Umgang mit Castillo verurteilen und eine Intervention der Vereinten Nationen fordern.

Croxattos juristisches Argument: „Die Amtsenthebung Castillos war verfassungswidrig.“ Das Parlament habe den vorgeschrieben Prozess missachtet. Es hätte eine Anklage und eine Untersuchung geben müssen. Castillo hätte die Möglichkeit haben, sich öffentlich vor einem Gericht zu äußern. Nichts davon sei geschehen, klagt Croxatto.

Das Problem des politischen Systems, sagt Politologin Yasmin Calmet, gehe allerdings viel weiter. „Der Staat steckt in einer Vertrauenskrise. Es gibt eine lange Tradition von Staatsstreichen und nicht legitim gewählten Regierungen“, sagt sie. Die Bevölkerung vertraue weder in die Politik, noch in staatliche Institutionen.

60
Tote gab es bei den Protesten bisher mindestens.

Das zeigt sich in den schlechten Zustimmungsraten, die sowohl die Präsidenten als auch das Parlament in der peruanischen Bevölkerung haben. Im November unterstützten nur 35 Prozent der Bevölkerung den damaligen Präsidenten Pedro Castillo. Der Opposition nutzte die schlechten Zustimmungsraten wiederholt als Argument für die Misstrauensvoten. Dabei kommt das Parlament noch schlechter weg: Im letzten Jahr überzeugte es um die 10 Prozent der Peruaner:innen.

Im Land gilt als offenes Geheimnis, dass viele Abgeordnete korrupt sind. Gerade rechte Kräfte diffamieren politische Gegner gerne per „terruqueo“ – das heißt, sie werfen ihren terroristische Ideen und Taten vor, um sie mundtot zu machen. Das erschwere den Diskurs und die Bildung einer politischen Kultur, sagt Calmet.

Für die Zukunft Perus hat die Politologin deshalb wenig Hoffnung. An vorgezogene Neuwahlen glaubt sie nicht. Auch eine neue Verfassung, die viele Demonstrant:innen fordern, werde es nicht geben. „Die nächste Regierung wird wahrscheinlich 2026 gewählt werden, wie es die Regeln vorsehen.“ Castillos Untersuchungshaft wurde im März auf 36 Monate verlängert. Wann er vor Gericht gestellt wird, ist unklar.

Fraglich ist auch, ob Boluarte dem wachsenden Druck der internationalen Gemeinschaft und auf den Straßen Perus bis 2026 standhalten kann. Im Januar leitete zudem die peruanische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Boluarte und drei Minister wegen Völkermordes, Mordes und schwerer Körperverletzung ein.

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