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Ku Klux Klan

© AFP

Rede- und Meinungsfreiheit in den USA : Gibt es ein Recht darauf, hassen zu dürfen?

Ira Glasser ist 84 Jahre alt und war 23 Jahre lang Direktor der „American Civil Liberties Union“ (ACLU). Als Bürgerrechtler hat er sich auch für die Rechte von Rassisten und Neonazis eingesetzt.

Wer darf was sagen? Der Streit um diese Frage ebbt nicht ab. Konservative beschuldigen Liberale, die Sprache ändern und kontrollieren zu wollen – Stichworte: Gendersternchen und „cancel culture“. Liberale beschuldigen Konservative, bestimmte Lehrinhalte verbannen zu wollen – Stichworte: Geschlechtervielfalt und „critical race theory“. Im Fokus beider Lager sind Schulen und Universitäten.

Im US-Bundesstaat Florida unterzeichnete der republikanische Gouverneur Ron DeSantis im vergangenen April einen Gesetzesentwurf mit dem etwas sperrigen Namen „House Bill 7“. Dessen Apologeten nennen ihn auch „Individual Freedom Act“ oder „Stop Wrongs To Our Kids and Employees“ (Stop Woke). Demnach sollen diverse Themen zu unterrichten oder zu diskutieren verboten sein.

Schülern und Studenten darf nicht beigebracht werden, sich verantwortlich oder schuldig zu fühlen für Taten, die in der Vergangenheit von Mitgliedern derselben Hautfarbe, nationalen Zugehörigkeit oder desselben Geschlechts verübt wurden.

Gegen das Gesetz haben mehrere Organisationen geklagt und sich dabei auf den ersten Verfassungszusatz berufen, der die Redefreiheit garantiert. In vielen Fällen haben sie Recht bekommen, doch DeSantis und die Seinen sind in Berufung gegangen. Seitdem hat sich die Atmosphäre an vielen Universitäten in Florida verschlechtert. Einige Akademiker geloben, sich jetzt bereits an das Gesetz halten zu wollen, um „Florida values“ zu verteidigen. Andere haben Angst, von Studenten ausspioniert und angezeigt zu werden.

Eine der Organisationen, die gegen „House Bill 7“ geklagt hat, ist die „American Civil Liberties Union“ (ACLU). Sie ist eine der ältesten und wichtigsten Bürgerrechtsvereinigungen in den USA. Nach eigenen Angaben hat sie mehr als 1.750.000 Mitglieder und Unterstützer in allen 50 Bundesstaaten.

Über Glassers Leben gibt es einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Mighty Ira“

Jährlich betreut sie etwa 2000 Verfahren vor Gericht. Die ACLU setzt sich für Meinungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, das Recht auf Abtreibung, die Gleichberechtigung von Homosexuellen, gegen die Todesstrafe und Polizeigewalt und für eine Trennung von Kirche und Staat ein.

Das klingt nicht nur radikal, sondern ist es in der Praxis oft auch. „Warum wir für das Recht auf Hass kämpfen müssen“: So lautet die Überschrift zu einem Artikel von Ira Glasser, veröffentlicht vor drei Wochen auf der Webseite spiked-online.com, auf der überwiegend linke, libertäre und marxistische Autoren publizieren.

Ira Glasser ist 84 Jahre alt und war 23 Jahre lang, von 1978 bis 2001, Direktor der ACLU. Glasser wurde im „Brooklyn Jewish Hospital“ in New York geboren, unterrichtete später Mathematik und war insgesamt 34 Jahre lang in verschiedenen Funktionen in der ACLU tätig. Über sein Leben gibt es einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Mighty Ira“.

Ein Recht auf Hass? Die ACLU vertritt einen sehr weiten Begriff von Rede- und Meinungsfreiheit. Glasser hat 1968 für das Recht des Rassisten George Wallace – ein Demokrat und Gouverneur von Alabama, der für die Präsidentschaft kandidiert hatte – gekämpft, in einem Stadium reden zu dürfen, das der Stadt New York gehörte. Er hat 1977 für das Recht von Neonazis gekämpft, mit Hakenkreuzfahnen durch einen von vielen Holocaust-Überlebenden bewohnten Stadtteil ziehen zu dürfen. Auch für den Ku-Klux-Klan hat Glasser sich eingesetzt.

Jede Macht muss durch Freiheitsrechte begrenzt werden

In einer Demokratie sei es nie sicher, wer die Macht habe, schreibt Glasser, deshalb müsse jede Macht durch Freiheitsrechte begrenzt werden. Andernfalls könne eine Mehrheit diktieren, was gesagt werden darf. Alle sozialen Errungenschaften in den USA – von der Aufhebung der Rassentrennung über Gewerkschaftsrechte bis hin zum Recht auf Abtreibung – seien zunächst durch kleine Gruppen vertreten worden, die sich auf ihre Redefreiheit beriefen.

Wolle eine Regierung Hass-Rede verbieten, schreibt Glasser weiter, stelle sich umgehend die Frage, wer definieren dürfe, was Hass sei. Diese Definitionsmacht dürfe keiner Obrigkeit zugestanden werden. Denn Einschränkungen der Redefreiheit seien wie Giftgas: Sobald sich der Wind dreht, wird es ins eigene Gesicht geblasen.

Glassers Essay ist so fulminant wie fundamentalistisch, sein Begriff von Freiheit so umfassend wie radikal. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel an seiner politischen Grundausrichtung aufkommen. 

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