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Milliardär gegen Landgericht. Bei dem seit Donnerstag laufenden Prozess geht es auch um die Frage, wie viel Redefreiheit rechtens sein kann.

© Jonathan Newton/Getty Images

Prozess um Hasskommentare auf Twitter: Kann sich der Rechtsstaat noch gegen Tech-Riesen behaupten?

In Frankfurt wird über die Löschung von Hetze auf Twitter verhandelt. Es ist eine erste Machtprobe zwischen Staat und Elon Musk. Das Ergebnis könnte wegweisend sein.

Von Twitter ist am Donnerstag niemand anwesend in Raum 337, dem Gerichtssaal im dritten Stock des Landgerichts in Frankfurt am Main. Bloß der Anwalt einer Kanzlei, die den Weltkonzern vertritt, ist per Videokonferenz zugeschaltet und auf einem großen Flachbildschirm zu sehen.

Immerhin hat er vorab von Kollegen physisch eine Vollmacht auf Papier vorlegen lassen. Die Gegenseite hatte ausdrücklich darum gebeten. Damit man zumindest wisse, dass man mit dem richtigen verhandle. Die Vollmacht hat allerdings ein falsches Datum. „Ein Fehler“, sagt der Anwalt auf dem Bildschirm. Er hat jetzt eine Woche Zeit, eine gültige Vollmacht nachzureichen.

Seit Elon Musk, der reichste Mensch des Planeten, den Kurznachrichtendienst Ende Oktober aufgekauft hat, ist die Plattform in schwere Turbulenzen geraten. Musk entließ massenhaft Mitarbeiter und führte in kurzer Abfolge neue Regeln und Geschäftsmodelle ein, bloß um sie Stunden später wieder über den Haufen zu werfen. Dazu klagen Nutzer über eine bislang ungekannte Flut von Hasskommentaren und Drohungen, die auch nach Meldung durch Betroffene nicht mehr gelöscht werden.

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Es geht um eine grundlegende Entscheidung

Doch genau das will der Mann, der auf der anderen Seite des Saals sitzt. Michael Blume ist der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg. Und eigentlich ein begeisterter Twitterer. 26.000 Follower, fast 38.000 abgeschickte Tweets. Blume will durchsetzen, dass Hasstweets gegen ihn konsequent gelöscht werden. Und nicht nur solche, die er gemeldet hat, sondern auch gleichlautende anderer Nutzer. Die Klage hat er schon Mitte Oktober eingereicht, vor Musks Übernahme, denn auch damals kam Twitter seiner Aufgabe nur unzureichend nach.

Der Antisemitismusbeauftragte wird seit langem massiv beleidigt. „So viel Hass kann kein einzelner Mensch mehr überblicken“, sagt er dem Tagesspiegel kurz vor Prozessbeginn. Sein Anwalt hat einen Antrag auf einstweilige Verfügung eingereicht und will einen Unterlassungsanspruch erwirken.

Konkret geht es um 46 Tweets eines Internetnutzers, der schon in der Vergangenheit durch aggressive Trollerei, nicht nur gegen Blume, aufgefallen war. Der Mann hatte Blume unter anderem eine „Nähe zu Pädophilie“ sowie einen „Seitensprung“ unterstellt, außerdem sei Blume „Teil eines antisemitischen Pakts“ - allesamt glatte Lügen. Sollte Twitter nach Erlass der gewünschten Verfügung dann seinen Pflichten weiterhin nicht nachkommen, könnte ein Ordnungsgeld bis zu 250.000 Euro drohen.

Falls das Gericht Twitter tatsächlich dazu verpflichtet, künftig auch gleichlautende Inhalte gemeldeter Tweets zu löschen, müsste das Unternehmen nicht nur seine Software umschreiben, sondern auch deutlich mehr Mitarbeiter einstellen.

Ist der Rechtsstaat noch in der Lage, sich durchzusetzen?

So könnte dieser Prozess am Ende eine viel größere Tragweite haben, als es in Raum 337 auf den ersten Blick scheint. Er könnte zeigen, ob Nationalstaaten willens und in der Lage sind, ihr eigenes Recht im Internet gegen einen Weltkonzern und dessen eigensinnigen Besitzer durchzusetzen.

Chan-jo Jun, der Anwalt von Michael Blume, hat in den vergangenen Tagen, in Vorbereitung auf diesen Prozess, diverse strafbare Tweets gemeldet. Er bekam jeweils nach kurzer Zeit eine Antwort, auch bei Meldungen spät nachts. Jun geht davon aus, dass keine Menschen diese gemeldeten Tweets überprüfen, sondern dass ein Algorithmus entscheidet. Dieser erkennt zwar explizite Schimpfwörter, andere Schmähungen oder falsche Unterstellungen aber nicht – und meldet dann zurück, dass der betreffende Tweet nicht gegen die Gemeinschaftsstandards verstößt.

Michael Blume, Antisemitismusbeauftrafter von Baden-Württemberg, verklagte den Weltkonzern Twitter.

© Loges + Langen

Ob für den deutschsprachigen Raum überhaupt noch ein Moderationsteam existiert, um gemeldete Tweets zu überprüfen, ist unklar. Der Tagesspiegel weiß, dass mehrere Mitarbeiter des Berliner Büros von Twitter den Konzern infolge der Übernahme durch Musk verlassen haben.

Darüber, ob die verbleibende Belegschaft für eine Kontrolle des Dienstes ausreicht, gibt es keine verlässlichen Informationen. Am Donnerstag berichtete jedoch die „Financial Times“, dass das Unternehmen sein Brüsseler Büro, das wichtigste außerhalb der USA, geschlossen haben soll.

Finanziert wird Blumes Klage durch die gemeinnützige Organisation HateAid, die schon in der Vergangenheit von Hass betroffene Internetnutzer vor Gericht gegen Plattformbetreiber unterstützt hat. Verfahren wie das vor dem Frankfurter Landgericht würden auch stellvertretend für die Interessen vieler anderer Betroffener geführt, sagt Josephine Ballon, Chefin der Rechtsabteilung von HateAid. Denn die Entscheidungen der Betreiber, ob sie einen menschenverachtenden Inhalt löschen oder nicht, wirkten oft willkürlich und nicht so, als würden sich die Konzerne an geltendem Recht orientieren. „Auch Twitter steht nicht über dem Gesetz“, sagt Ballon.

Wenn der Rechtsstaat nicht einmal mehr die Familien von demokratisch Aktiven beschützen kann, dann gibt er sich auf.

Michael Blume, Antisemitismusbeaufragter Baden-Württembergs und Kläger gegen Twitter

Blume sagt, er habe sich an den Dauerhass gegen seine Person schon gewöhnt gehabt. Doch inzwischen gerieten auch seine Frau und seine Kinder in den Fokus: „Daran kann und will ich mich nicht gewöhnen“, sagt er. „Wenn der Rechtsstaat nicht einmal mehr die Familien von demokratisch Aktiven beschützen kann, dann gibt er sich auf.“

Drastische Zunahme von Hasskommentaren unter Musk

Michael Blume hat sich von Twitter mittlerweile zurückgezogen, jedenfalls vorläufig. Weil der Hass sich nach der Übernahme durch Elon Musk noch mal gesteigert hat. Twitter habe ihm Freude bereitet, sagt er, er habe tolle Dialoge geführt und echte Freundschaften geknüpft. Aber jetzt sei es nicht mehr tragbar. Blume sagt: „Ohne rechtlichen Schutz will ich nicht zurück.“

Dass Schmähungen, Drohungen und Todeswünsche auf Twitter in den vergangenen Wochen so zugenommen haben, liegt daran, dass Elon Musk sich selbst als Vorkämpfer all derer inszeniert, die durch „politische Korrektheit“ ihre Meinungsfreiheit gefährdet sehen. Der Milliardär bezeichnet sich als „free speech absolutist“, als absoluten Verfechter der Redefreiheit.

Nach seiner Übernahme nahm der Gebrauch des N-Worts laut unabhängiger Erhebungen um rund 500 Prozent zu. Auch Leugnungen des Holocausts wurden nicht mehr gelöscht. Und dies ermutige die Hetzer, noch aggressiver auszuteilen.

Zudem ließ der neue Besitzer Nutzerkonten wieder herstellen, die in der Vergangenheit wegen Hetze oder dem Verbreiten von Verschwörungstheorien gesperrt worden waren, unter anderem das der extrem rechten US-Abgeordneten Marjorie Taylor Greene und des durch offenen Judenhass aufgefallenen Musikers Kanye West.

Zuletzt ließ Musk seine Follower über die Wiederherstellung von Donald Trumps Konto abstimmen. Der damalige US-Präsident war nach der Erstürmung des Kapitols im Januar 2021 gesperrt worden. Die Abstimmung fiel positiv aus, das Konto ist zurück. Trump hat es aber noch nicht benutzt.

Gleichzeitig verkündet Musk das Gegenteil: Die Kommunikation auf Twitter werde immer besser und harmonischer, der Hass sei rückläufig, das Unternehmen gewinne das Vertrauen der Menschen.

Musk widerlegt Argumentation selbst

Twitters Anwälte haben ihre Position schon im Vorfeld in zwei Schriftsätzen geäußert: Das Unternehmen sei nicht verpflichtet, so aufwendige technische Lösungen zu implementieren, dass auch gleichlautende Hassinhalte gelöscht werden. Dies sei nicht zumutbar, weil es den Betrieb des Portals erheblich erschweren würde. Allerdings belegt Twitter diese Behauptung nicht, nennt keine konkreten Kosten, die dann anfallen würden.

Die Frage ist: Werden die Anwälte nun im Laufe des Prozesses vortragen, dass aufwändige Löschungen jetzt noch unzumutbarer sind, da das Unternehmen gerade mehr als die Hälfte seiner Mitarbeiter entlassen oder verloren hat? Und falls ja: Was wird das Gericht davon halten?

Neu-Besitzer Elon Musk will das soziale Netzwerk Twitter nach seinen Vorstellungen von Redefreiheit umbauen.

© Susan Walsh/AP/dpa

Während des Prozesses am Donnerstag sagt der zugeschaltete Anwalt, die Sichtweise von Michael Blume sei nachvollziehbar, jedoch nur eine Seite der Medaille. Twitter unternehme bereits „sehr viel gegen Hassrede“ und werde deshalb auch regelmäßig von Nutzern verklagt, deren Tweets in diesem Kontext gelöscht werden. „Twitter sitzt also zwischen den Stühlen“, sagt der Anwalt.

Zudem, so äußerten sich die Rechtsbeistände bereits im Vorfeld, sei der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung schon deshalb unsinnig, weil keine Dringlichkeit wegen Wiederholungsgefahr bestehe, denn der Account, der die konkret beanstandeten Tweets abgesetzt hat, ist inzwischen gesperrt worden sei. Deshalb bestehe aktuell keine Gefahr einer Wiederholung.

Das beste Gegenargument lieferte nur wenige Stunden später Elon Musk selbst, als er seine Twitter-Follower fragte, ob er nicht eine Generalamnestie für sämtliche gesperrten Nutzer erlassen solle, sofern diese keine Gesetze gebrochen haben.

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Blumes Anwalt Chan-jo Jun hat sich auf Twitter öffentlich für diese ungewollte Schützenhilfe bedankt, Musk reagierte nicht. Jun sagt, neben nicht gelöschten Hassinhalten gebe es inzwischen auch haufenweise Abbildungen von Missbrauch an Kindern, die nicht mehr gelöscht würden. Sein Fazit: „Twitter brennt lichterloh.“

Gab es einen Deal mit der Bundesregierung?

Die Klage greift auch die Taktik des Konzerns an, eindeutig strafbare Tweets nicht zu löschen, sondern nur im Land des Beschwerdestellers unsichtbar zu machen. „Geoblocking“ nennt sich dieses Vorgehen. Mit den richtigen Programmen, sogenannter VPN-Software, können Internetznutzer diese Blockaden aber leicht umgehen. Muss Michael Blume es also hinnehmen, dass ein nach deutschen Recht illegaler Hasstweet gegen ihn lediglich in Deutschland nicht mehr erscheint, obwohl zigtausende Deutsche ihn weiterhin sehen können?

Am Vormittag, wenige Stunden vor Beginn der Verhandlung, ist Blumes Anwalt Chan-jo Jun aufgebracht. Durch eine kurzfristig eingebrachte Erwiderung der Gegenseite hat er erfahren, dass sich Twitter offenbar absichtlich nicht an in Deutschland längst gültige Löschvorschriften hält, da die Bundesregierung dem Unternehmen versichert habe, keine Strafen zu verhängen.

Jun sagt, es habe wohl einen „Deal“ gegeben, der bislang nicht öffentlich sei. Jun twitterte: Da kämpfe man „jahrelang gegen Plattformbetreiber, die schamlos deutsches Recht brechen“, und erfahre nun, dass „es die eigene Regierung ist, die mir heimlich und ohne Not in den Rücken fällt.“

Ich wünsche mir klare Rechtsregeln und mehr europäische Digitalmedien, damit unsere Demokratien nicht länger russischen, chinesischen und auch US-rechtslibertären Übergriffen ausgeliefert sind.

Kläger Michael Blume

Auch wegen solcher Vorgänge weiß Blume, dass er an diesem Tag stellvertretend für viele andere in diesem Saal sitzt. Bei praktisch jeder öffentlichen Veranstaltung, an der er teilnehme, erzählten ihm „Mit-Betroffene, was sie teilweise seit Jahren an Verschwörungsmythen und Cyberhass gegen sich, ihre Familien und Mitarbeitende erleben. Und dann bitten sie mich, nicht aufzugeben.“ Denn wenn der Rechtsstaat nicht einmal überparteilich Beauftragte wie ihn schütze, wer sei dann noch sicher? „Ich habe mir diesen täglichen Hass also nicht ausgesucht, aber nun will ich ihm wenigstens einen Sinn abgewinnen und unsere Demokratie stärken“, sagt er.

„Ich glaube, dass Elon Musk gerade unfassbaren Schaden anrichtet, auch gegenüber seinen Mitarbeitenden und Partnern“, fährt Blume fort. Für die Zukunft wünscht er sich daher „klare Rechtsregeln und mehr europäische Digitalmedien, damit unsere Demokratien nicht länger russischen, chinesischen und auch US-rechtslibertären Übergriffen ausgeliefert sind.“

Natürlich sei es denkbar, dass Twitter diesen Prozess gewinnt, sagt Anwalt Chan-jo Jun. Mit Musterverfahren wie diesem versuchten er und HateAid schließlich, die Rechtsprechung voranzubringen. „Das bedeutet auch, dass wir Prozesse führen, bei denen wir nicht wissen, was rauskommt. Bei denen die Erfolgsaussichten keinesfalls eindeutig sind.

Ein Urteil gibt es an diesem Donnerstag noch nicht. Die Richterin deutete aber schon an, dass in diesem Fall tatsächlich Wiederholungsgefahr besteht. Und dass die Unterstellungen gegen Blume - „Nähe zu Pädophilie“, „Seitensprung“, „Teil eines antisemitischen Pakts“ - völlig aus der Luft gegriffen und rechtswidrig sind und deshalb entfernt werden müssen.

Inwieweit Twitter künftig gezwungen werden kann, auch kerngleiche Tweets zu löschen, soll laut Richterin aber erst im Hauptverfahren entschieden werden. Dem wolle sie in diesem Eilverfahren nicht vorgreifen.

Doch die Chancen, dass Twitter zur Änderung seiner Moderations- und Löschpraxis gezwungen wird, sind groß. Denn im Frühjahr hat dasselbe Landgericht bereits Facebook verpflichtet, künftig gleichlautende und sinngemäße Inhalte zu löschen. Blumes Anwalt Chan-jo Jun, der bis Anfang diesen Jahres Renate Künast gegen Facebooks Mutterkonzern „Meta“ vertrat, nennt das Urteil eine „sensationelle Entscheidung“ – und eine, die hoffentlich Signalwirkung habe. Auch damals hatte die verklagte Plattform nicht schlüssig und nicht mit Zahlen dargelegt, weshalb eine aufwändigere Moderation nicht zumutbar sei.

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