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Griechenlands Parlamentsgebäude im Zentrum von Athen – bald werden die Sitze hier neu verteilt.

© dpa/Angelos Tzortzinis

Wer hat die besten Chancen?: Die „Griechische Lösung“ könnte vom Flüchtlingsunglück profitieren

Griechenland wählt am Sonntag eine neue Regierung. Die rechte Partei erhielt zuletzt immer mehr Zuspruch, für den Chef der linken Syriza, Alexis Tsipras, geht es deshalb um alles.

Von George Tsakiris

Griechenland wählt, schon wieder. An diesem Sonntag werden die rund zehn Millionen Wahlberechtigten zum zweiten Mal innerhalb von etwas mehr als einem Monat zu den Urnen gehen.

Nur wenige Stunden vor der Wahl versucht die konservative Partei „Neue Demokratie“ unter der Führung des amtierenden Regierungschef Kyriakos Mitsotakis, die entscheidende 40-Prozent-Hürde zu erreichen. Ein solcher Sieg würde die sichere absolute Mehrheit für die Bildung einer Einparteienregierung gewährleisten.

In der Zwischenzeit kämpfen die Oppositionsparteien Syriza und Pasok darum, wer die griechische linke Mitte für sich gewinnen kann. Zugleich ist das die Schicksalsfrage für den Syriza-Chef und ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. Sollte er, wie in der ersten Wahlrunde im Mai, nur 20 Prozent holen, halten Beobachter seinen Rücktritt als Parteivorsitzender für wahrscheinlich.

440.000
Erstwähler:innen (ab 16 Jahren) können an der diesjährigen Wahl teilnehmen.

Mitten im Wahlkampf kam es vergangene Woche zum Schiffsunglück vor Pylos in Südwestgriechenland, bei dem mindestens 82 Migranten starben und Hunderte noch immer im Mittelmeer vermisst sind.

Besonders fragwürdig ist in diesem Zusammenhang die Rolle der griechischen Küstenwache, der vorgeworfen wird, dem kenternden Schiff nicht rechtzeitig geholfen zu haben. Doch wird das auch die Wahl beeinflussen? Spricht man mit Experten, glauben sie nicht daran.

Aber eins nach dem anderen: Die Parlamentswahlen am 25. Juni werden nach dem System des „verstärkten“ Verhältniswahlrechts abgehalten, das sich vom Verhältniswahlrecht der Wahl vom 21. Mai dadurch unterscheidet, dass es zusätzliche Sitze im Parlament vergibt.

Zweiter Wahlgang unter neuem Recht

Die Anzahl der „Bonussitze“ ist nicht festgelegt, sondern hängt vom endgültigen Stimmenanteil der Partei mit den meisten Stimmen ab. Maximal werden 50 Bonussitze vergeben, wodurch die stärkste genug Prozente bekommt, um eine Regierung zu bilden. Wäre dieses System bereits in der ersten Wahlrunde angewandt worden, hätte die Konservativen von der „Neuen Demokratie“ gewonnen.

Die Bildung einer Einparteienregierung hängt jedoch nicht nur vom Prozentsatz der führenden Partei ab, sondern auch vom kumulierten Prozentsatz der Parteien, die die Drei-Prozent-Hürde nicht erreichen – das heißt all jener, die aus dem Parlament ausscheiden.

Solange die Neue Demokratie ein Ergebnis von mehr als 40 Prozent erreicht, ist die absolute Mehrheit sicher. 

George Arapoglou, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts „Pulse RC“

Je mehr Parteien ausscheiden, desto geringer ist der für eine Einparteienregierung erforderliche Höchstprozentsatz. Umgekehrt bedeutet eine größere Anzahl von Parteien, die es schaffen, Abgeordnete ins Parlament zu wählen, dass die stärkste Partei einen höheren Prozentsatz benötigt, um die gewünschte absolute Mehrheit zu erreichen – was es schwieriger macht, ohne eine Koalition zu regieren.

Verwirrt? Es ist ganz einfach: Bei einem Fünf-Parteien-Parlament ist die absolute Mehrheit mit einem Prozentsatz von etwa 37,5 Prozent gesichert, bei einem Sechs-Parteien-Parlament liegt die Hürde bei 38,4 Prozent und bei einem Sieben-Parteien-Parlament bei 40 Prozent. Im Mai hatte Kyriakos 40,8 Prozent der Stimmen erhalten, und den jüngsten Umfragen zufolge wird er diese Zahl voraussichtlich halten, wenn nicht sogar steigern können.

George Arapoglou, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts „Pulse RC“, zufolge sind Wirtschaft, Inflation, Gesundheit und Bildung die großen Themen, die das Wahlergebnis bestimmen werden. Er erwartet nicht, dass der Schiffbruch der Migranten eine Schlüsselrolle spielen wird.

Welche Themen sind wahlentscheidend?

„Solange die Neue Demokratie ein Ergebnis von mehr als 40 Prozent erreicht, ist die absolute Mehrheit sicher. Dann wird Griechenland am Montag eine Regierung haben, egal wie viele Parteien den Einzug ins Parlament schaffen werden. Im schlimmsten Fall werden acht oder neun Parteien ins Parlament einziehen, was laut unserer Umfragen aber nicht sehr wahrscheinlich ist.“

Sicherlich waren viele von der Flüchtlingstragödie betroffen. Aber da das Thema Migration nicht mehr an erster Stelle steht, wird es das Wahlverhalten der Menschen nicht drastisch verändern.

Aggelos Seriatos, Leiter der Sozial- und Politikforschung bei „Prorata“

In diesem Fall geht der Experte Arapoglou von einer knappen, aber absoluten Mehrheit aus. Zum Flüchtlingsunglück sagt er: „Alle großen Ereignisse beeinflussen die Wähler. Und eine schockierende Tragödie wie die in Pylos hat sicherlich Auswirkungen. Aus den bisher vorliegenden Daten geht jedoch nicht hervor, dass sich die Wahltrends in irgendeiner Weise dramatisch verändert.“

Aggelos Seriatos, Leiter der Sozial- und Politikforschungsinstituts bei Prorata, stimmt dem zu. „Bis zur Flüchtlingskatastrophe von Pylos deuteten alle Anzeichen darauf hin, dass wir praktisch auf ein Copy-Paste-Ergebnis der Wahlen vom Mai zusteuern, mit einem leichten Anstieg der Neuen Demokratie und einem leichten Rückgang des Anteils von Syriza“, erklärt der Meinungsforscher.

Rechtspopulisten profitieren vom Schiffsunglück

„Nach dem tragischen Vorfall im Mittelmeer musste die Regierungspartei einige Verluste hinnehmen, hat aber inzwischen wieder die Zahlen vom Mai erreicht.“

Die Rechtspopulisten von der Partei „Griechischen Lösung“ konnten dennoch leichte Zuwächse verzeichnen. „Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Wähler haben das Flüchtlingsthema vergessen und erinnern sich nun wieder daran.

Sicherlich waren viele von der Flüchtlingstragödie betroffen“, meint Seriatos. „Aber da das Thema Migration in der öffentlichen Meinungsumfrage nicht mehr an erster Stelle steht – aufgrund der Inflation, der hohen Preise, der Arbeitslosigkeit und anderer alltäglicher Probleme – wird es das Wahlverhalten der Menschen nicht drastisch verändern.“

Auch er geht davon aus, dass das neue Parlament wohl aus sechs oder sieben Parteien bestehen und Kyriakos Mitsotakis am Sonntag mit mehr als 40 Prozent wiedergewählt werden.

Eine recht stabile Prognose, bedenkt man, welch turbulente Zeiten die Griechen hinter sich haben: Zwischen 2009 und 2015 erlebte Griechenland politische Unruhen unter der ständigen Bedrohung eines Staatsbankrotts. In sechs Jahren gab es fünf vorgezogene Neuwahlen, sechs Regierungen und ein Referendum in Verbindung mit einem möglichen Austritt aus der Eurozone. All dies gehört der Vergangenheit an. Zumindest für den Moment.

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