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Zehntausende Menschen sind in Libyen nach den Überschwemmungen obdachlos.

© REUTERS/ESAM OMRAN AL-FETORI

„Die Not und Verwüstung sind grenzenlos“: In Libyen regiert nach der Flutkatastrophe die Ohnmacht

Vom Chaos in die Katastrophe: Tausende Menschen sind der Flut in Libyen zum Opfer gefallen. Bergungs- und Hilfsarbeiten laufen in dem Bürgerkriegsland nur langsam an.

Von Wasser und Schlamm verwüstete Straßenzüge. Weggespülte Autos, Wohnhäuser in Trümmern. Mehr als 6000 Menschen sind örtlichen Angaben zufolge bis Mittwoch bei den schweren Überschwemmungen in Libyen gestorben, Tausende weitere gelten als vermisst. Zehntausende, die durch die Unwetter ihre Häuser verloren haben, sind obdachlos.

Der Sturm „Daniel“, der zuvor auch in Griechenland wütete, hatte am Sonntag das nordafrikanische Land mit rund sieben Millionen erfasst. Hilfe läuft nur langsam an. 

Zweiteilung des Landes als zusätzliches Problem

Chaos herrscht in Libyen nicht erst seit der Flutkatastrophe: Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al Gaddafi im Jahr 2011 tobt in dem Land ein Bürgerkrieg. Warlords und Milizen ringen um Einfluss in dem ölreichen Staat. Die international anerkannte Regierung regiert den Westen, während im Osten General Chalifa Haftar herrscht.

General Chalifa Haftar gehört zu den Machthabern in Libyen.

© AFP/Abdullah Doma

In den von ihm besetzten Gebieten liegt das Epizentrum der Katastrophe, die Küstenstadt Derna. „Dort hat der Bruch zweier Staudämme dazu geführt, dass sich eine Flutwelle mit ungeheurer Macht eine Schneise durch die Stadt geschlagen hat“, sagt Rebecca Winkels vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) dem Tagesspiegel. „Ganze Stadtteile wurden weggespült.“

Vom Wasser verwüstet: Die Hafenstadt Derna im Norden des Landes.

© picture alliance/dpa/AP/Jamal Alkomaty

Die Dämme sollen dem Sender „Al Jazeera“ zufolge seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr gewartet worden sein. Der stellvertretende Bürgermeister der Stadt sagte dem Nachrichtensender, dass die Infrastruktur zudem nicht darauf ausgelegt gewesen sei, dieser Art von Sturm standzuhalten.

Kaum Krisenmanagement

Die Hilfe für die Verletzten bleibt schwierig. Der Sturm habe die Infrastruktur der Region zerstört, sagt Abeer Etefa. Sie arbeitet für das Welternährungsprogramm der UN (WFP) im Regionalbüro für den Nahen Osten und Nordafrika. „Straßen, Brücken, Telekommunikation – jeder Zugangsweg ist erschwert.“ Die Region um Derna sei ein Katastrophengebiet.

Das WFP rechnet daher mit 100.000 hilfsbedürftigen Menschen, direkt in der Küstenstadt habe man bereits 3500 Notleidende mit Nahrungsmitteln versorgt. Das Deutsche Rote Kreuz unterstützt den Libyschen Halbmond eigenen Angaben zufolge mit Geld, um die unmittelbaren Kosten der Hilfsarbeiten decken zu können.

Zudem werde geprüft, ob die Organisation, gemeinsam mit ihrem Partner in der Türkei, einen Flug in die am schwersten betroffenen Gebiete organisieren könnte. „Die Herausforderung ist – wie immer – schnell zu entscheiden und schnell zu helfen, aber trotzdem bedarfsgerecht zu agieren und sicherzustellen, dass die Hilfsgüter dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden“, sagt Rebecca Winkels vom DRK.

Helfer beginnen in Derna mit den Aufräumarbeiten.

© Reuters/Libyan Red Crescent Ajdabiya

Normalerweise wird dieses Krisenmanagement, wie schon im Fall der Erdbeben in Marokko und der Türkei, von der jeweiligen Zentralregierung gesteuert. Dass Libyen jedoch praktisch führungslos ist, erschwert die Lage Beobachtern zufolge sehr.

Die Hauptprobleme bestehen in der politischen Zweiteilung des Landes und darin, dass es in dem betroffenen Küstenstreifen der Cyrenaica keine funktionierende Verwaltung gibt“, erklärt Günter Meyer, Professor an der Universität Mainz.

„Derna war eine Hochburg islamistischer Extremisten, ehe sie 2019 unter dem Kommando des Generals Chalifa Haftar erobert wurde. Von seiner Hauptstadt Bengasi aus kontrolliert er zwar den Ostteil des Landes militärisch, aber mit einer völlig unzureichenden Administration.“ 

Im Ostteil des Landes gibt es unter Khalifa Haftar eine völlig unzureichende Administration.

Günter Meyer, Fachmann für politische Geographie der arabischen Welt an der Universität Mainz

Unterstützung sei von Haftars Verbündeten – Russland, Ägypten, Jordanien und Katar – zu erwarten.

Zahlreiche Straßen sind zerstört oder blockiert, was die Rettungsarbeiten so schwierig macht.

© Reuters/ESAM OMRAN AL-FETORI

Es fehlen Strukturen, die in so einem Katastrophenfall funktionieren, sagt Abeer Etefa vom WFP. „Die Menschen vor Ort helfen sich gegenseitig, aber es fehlt an allem: Notunterkünfte, Bergungsgerät, Wasser, medizinische Versorgung, Nahrung, Kochutensilien. Nun läuft auch die internationale Hilfe, aber aktuell sind Not und Verwüstung grenzenlos.“

Mögliche Machtspiele des Haftar-Regimes bei finanziellen Hilfen

Neben Derna waren auch andere Städte wie Al Baida, Al Mardsch, Susa und Schahat betroffen. Der Bürgermeister in Schahat sprach von rund 20.000 Quadratkilometern überfluteter Gebiete – eine Fläche etwa so groß wie Sachsen-Anhalt.

384
Millionen Euro kündigte Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba rund für den Wiederaufbau in den betroffenen Gebieten an. 

Die betroffenen Regionen wurden zu Katastrophengebieten erklärt. Die Regierung in der Hauptstadt Tripolis sprach von den schwersten Regenfällen seit mehr als 40 Jahren. Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba kündigte rund 384 Millionen Euro für den Wiederaufbau an.

„Bei solchen Absichtserklärungen spielt sicherlich auch das Bemühen der Regierung in Westlibyen eine Rolle, ihre politische Position im Osten des Landes zu stärken“, erklärt Libyen-Experte Meyer.

„Deshalb ist offen, ob und unter welchen Bedingungen das Haftar-Regime diese finanziellen Zusagen aus Tripolis annehmen wird.“ Die Kosten dieser Machtspiele trägt, wie immer, die Bevölkerung.

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