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Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva überreicht dem indischen Premierminister während des G20-Gipfels in Neu-Delhi einen Baumschössling, um den Übergang des G20-Vorsitzes zu symbolisieren.

© action press/Planet Pix via ZUMA Press Wire /

Alternative zum Westen?: Wie der Globale Süden eine neue Weltordnung vorantreibt

Die Bedeutung des Globalen Südens wächst und damit auch der Anspruch der Staaten, mitzugestalten. Das muss für den Westen kein Anlass zur Sorge sein, argumentieren die Experten Henrik Maihack und Johannes Plagemann in ihrem Gastbeitrag.

Von
  • Johannes Plagemann
  • Henrik Maihack

Auf einmal, so scheint es, hat der Westen es mit einem geeinten Globalen Süden zu tun. Indien erklärte sich im Rahmen der G20-Präsidentschaft zur „Stimme des Globalen Südens“ und begrüßte mit großer Geste die Afrikanische Union im Kreise der G20.

China reklamiert schon länger, die Interessen des Globalen Südens gegenüber dem Westen zu vertreten. Die Brics-Staaten erweitern sich. Ab 2024 werden sie zu elft sein. Sie eint die Suche nach Alternativen zum Westen ebenso wie die Kritik an westlichen Doppelstandards und an internationalen Organisationen, die die globalen Kräfteverhältnisse nicht mehr angemessen abbilden. Aber wie geeint ist der Globale Süden wirklich? Und was heißt das für den Westen?

Natürlich ist der Begriff „Globaler Süden“ eine brutale Verallgemeinerung. Die Staaten Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas sind viel diverser als die westlichen Industriestaaten. Vom Grenzkonflikt zwischen den Brics-Altmitgliedern China und Indien bis zum Streit um Nil-Wasser unter den Neumitgliedern Äthiopien und Ägypten: Es gibt zahlreiche Interessenskonflikte zwischen ihnen.

Derweil verbindet Indien und die USA die Sorge vor China. Gemeinsam mit den Brics-Neumitgliedern Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten haben die USA, Indien und die EU beim G20-Gipfel in Neu-Delhi Anfang September die Schaffung eines „historischen Wirtschaftskorridors“ angekündigt – als Alternative zur chinesischen Seidenstraße. Deutschland und Brasilien wollen gemeinsam den Sicherheitsrat reformieren. Von klassischer Blockbildung kann also keine Rede sein.

Emanzipation des Globalen Südens

Doch der Begriff des Globalen Südens verweist auf wichtige Bruchlinien in der internationalen Politik. Er wird nicht zufällig in den Staaten selbst mit zunehmend emanzipatorischem Anspruch verwendet. Denn viele Länder dort teilen eine historische Skepsis gegenüber den Empfehlungen des Westens. Eine Mehrheit von Staaten ist nicht mehr bereit, die in westlichen Hauptstädten erdachten Prinzipien und Rezepte der internationalen Politik einfach mitzutragen.

Johannes Plagemann/Henrik Maihack: „Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“. C.H. Beck, 21. September 2023.
Johannes Plagemann/Henrik Maihack: „Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“. C.H. Beck, 21. September 2023.

© C.H.Beck Paperback

Die meisten Länder des Globalen Südens wurden durch den Kolonialismus ausgebeutet. Heutige Handelsregime erschweren nach wie vor eine Weiterverarbeitung vor Ort. Gleichzeitig gibt es hohe Anreize für den direkten Export von Rohstoffen. Kein Wunder also, dass der Vorwurf des Neokolonialismus immer lauter wird. Und das nicht nur in Ländern wie dem Niger, wo die Putschisten die Abhängigkeit der politischen Führung vom Westen kritisierten.

Gegenmodell zur westlichen Dominanz

Für viele im Westen sind die 1990er Jahre mit dem Triumph westlicher Werte und Ordnungsvorstellungen verbunden. Im Globalen Süden wird diese unipolare Hochphase dagegen eher als eine Zeit der fortgesetzten Abhängigkeit und der Krisenerfahrungen gesehen. Erschwerend hinzu kommt: Der Westen hat viele dieser Großkrisen zumindest mitverursacht.

Das gilt für den Klimawandel ebenso wie die dramatische Sicherheitslage in der Sahel-Region, die auch eine Folge der Nato-Intervention in Libyen 2011 ist. Warnungen davor wurden in den Wind geschlagen. Wenig überraschend also, dass die meisten Staaten des Globalen Südens der wirtschaftlichen und politischen Dominanz des Westens so ablehnend gegenüberstehen und ein multipolares Modell interessant erscheint.

Was bedeutet Multipolarität?

Bereits der Begriff der Multipolarität verunsichert uns im Westen. Er bezeichnet eine Welt mit verschiedenen Machtzentren – auch jenseits des Westens. Je nach Interessen und Angeboten entstehen neue, ungewohnte, oftmals transaktionale Konstellationen. Der Westen bleibt für viele Staaten im Globalen Süden ein attraktiver Partner. Aber einer, der zunehmend im Wettbewerb mit anderen steht.

Der relative Verlust an internationaler Gestaltungsmacht des Westens ist wohl unumkehrbar. 

Henrik Maihack und Johannes Plagemann

Auf globaler Ebene können weder die USA noch China ihre Interessen alleine durchsetzen. Das heißt für den Westen: Der Aufbau von Partnerschaften in einem multipolaren Wettbewerb wird aufwendiger und braucht bessere Angebote. Denn der relative Verlust an internationaler Gestaltungsmacht des Westens ist wohl unumkehrbar.

Gleichzeitig stoßen die internationalen Organisationen an ihre Grenzen, die lange Zeit vom Westen dominiert wurden. Ihnen gelingt es immer weniger, Einigkeit herzustellen. Innerhalb des Westens ebenso wenig wie unter den aufstrebenden Staaten des Globalen Südens. Die viel beschworene „regelbasierte internationale Ordnung“ enthält offenbar Regeln, die nicht alle teilen und durchsetzen wollen. Vielleicht auch, weil sich nicht alle gleichermaßen als deren Urheber sehen.

Im Globalen Süden ist die multipolare Welt nichts Neues – man lebt längst in ihr. Freundschaftliche Beziehungen zu Russland, China und den USA sind für Länder wie Südafrika oder Bangladesch kein Widerspruch, sondern außenpolitischer Pragmatismus. Man lässt sich nicht erklären, wen man sich zum Feind machen und mit wem man Partnerschaft pflegen soll.

Der Westen wird sich daran gewöhnen müssen, dass mit der gestiegenen Bedeutung der Länder des Globalen Südens auch deren Anspruch wächst, globale Entwicklungen und Krisenlösungen mitzugestalten. Und das ist ein Gewinn. Denn die jüngsten Vorstöße zeigen – von der afrikanischen Friedensinitiative für die Ukraine bis zum Aufschlag zur Lösung der Klimakrise beim ersten afrikanischen Klimagipfel Anfang September –: Wenn neue Akteure hinzukommen, entstehen auch neue – und gelegentlich bessere – Ideen.

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