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Die meisten Selfies werden Statistiken zufolge im Urlaub gemacht, hier Touristinnen am Checkpoint Charlie in Berlin.

© Bearbeitung: Tagesspiegel | imago-images

Zwischen Selbstvergewisserung und Sucht: Wie hat das Selfie die Welt verändert?

Seit gut zehn Jahren ist das Selfie ein Massenphänomen. Künstliche Intelligenz beflügelt den Trend – doch Psychologen warnen vor gefährlichen Folgen der „Selfitis“.

1 Ich war hier

Das Bedürfnis, ein Bild von sich festzuhalten und mit anderen zu teilen, kannten schon die Steinzeitmenschen, die vor 40.000 Jahren die Umrisse ihrer Hände an Höhlenwänden hinterließen und ihre Erlebnisse in Form von Strichfiguren-Zeichnungen dokumentierten.

Ihre Impulse dürften jenen ähnlich gewesen sein, denen aktuellen Erhebungen zufolge die Menschen der Gegenwart rund 90 Millionen Mal am Tag nachgeben, wenn sie mit dem Smartphone ein Selfie von sich machen: sich ihrer selbst zu vergewissern, ihre Individualität auszudrücken, ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu markieren, Anerkennung zu bekommen – und nicht zuletzt einen Beleg ihrer Existenz für die Nachwelt zu erhalten.

Dank der globalen Verbreitung von Smartphones mit Frontkamera, Apps zur Bildbearbeitung und Social-Media-Seiten als Forum zur Selbstdarstellung wurde das Selfie vor gut zehn Jahren zum Massenphänomen. 2013 kürte das Oxford Dictionary den Begriff zum Wort des Jahres.

Inzwischen ist es aus dem Alltag vieler Menschen kaum noch wegzudenken. Junge Erwachsene, die kürzlich für eine Untersuchung befragt wurden, verbringen nach eigenen Angaben im Schnitt täglich sieben Minuten damit, ein Selfie von sich aufzunehmen – etwa doppelt so viel Zeit wie mit dem täglichen Zähneputzen.

2 Risiken und Nebenwirkungen

Viele Menschen verbindet mit dem Selfie eine Art Hassliebe. Studien zufolge ist ein gutes Drittel der Befragten mit dem eigenen Aussehen auf Fotos unzufrieden, ein weiteres Drittel ist ambivalent, nur eine kleine Minderheit ist uneingeschränkt glücklich damit.

Dennoch ist das Bedürfnis, sich auf diese Weise mit sich selbst zu beschäftigen, gerade bei jüngeren Menschen inzwischen so groß, dass Forscher es 2017 als Suchtphänomen identifiziert haben. Psychologen der Trent-Universität in Großbritannien und der Thiagaraja School of Management in Indien gaben ihm den Namen Selfitis.

Historisches Selfie: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ sich 2015 zusammen mit einem Flüchtling fotografieren.

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Inzwischen schätzen es auch deutsche Gesundheitsfachleute als „ernst zu nehmendes Problem“ ein, wie die Techniker-Krankenkasse kürzlich meldete. So kann der Zwang, ständig Bilder von sich aufnehmen und teilen zu müssen, unter anderem gravierende Folgen für das Verhältnis zum eigenen Körper haben.

Laut TK ergab eine Umfrage unter Schönheitschirurgen, dass 55 Prozent der Patientinnen und Patiente um eine Operation baten, um ihr Aussehen auf Selfies zu verbessern.

Andere Risiken sind der Datenschutz – Selfies sind im Endeffekt auch nur biometrische Daten, die dank massenhafter Verbreitung zum Missbrauch einladen – und nicht zuletzt gibt es ganz handfeste Folgen des Wettstreits um möglichst originelle Selfie-Settings.

Die Untersuchung einer indischen Fachzeitschrift ergab, dass zwischen 2011 und 2017 die Zahl der Menschen, die beim Versuch ums Leben kamen, ein Selfie an ungewöhnlichen Orten aufzunehmen, mit 259 gut fünfmal höher war als die der Opfer von Hai-Attacken.

3 Das letzte Selfie der Geschichte

Aus unserem Alltag dürfte das digitale Selfie so schnell nicht mehr verschwinden, auch weil es inzwischen ganz praktische Aufgaben erfüllt. So wird es zunehmend zur Identifizierung bei Online-Vorgängen benutzt. Die Arbeitsagentur zum Beispiel führte während der Coronakrise das „Selfie-Ident-Verfahren“ ein, mit dem sich Kunden registrieren können, ohne persönlich vorstellig werden zu müssen.

Auch Bankkonten können inzwischen so eröffnet werden, Marktforscher erwarten eine Zunahme von derartigen Methoden zur Identitätsüberprüfung auch im Onlinehandel.

Die meisten Selfies werden Statistiken zufolge im Urlaub gemacht, hier Touristinnen am Brandenburger Tor in Berlin.

© dpa/Gregor Fischer

Im Privatleben vieler Selfie-Fans dürfte eine Entwicklung weiter voranschreiten, die schon jetzt auf etlichen Social-Media-Accounts zu sehen ist: die zunehmende Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) und komplexen Bildbearbeitungsprogrammen zur Erschaffung immer eindrucksvollerer Selfies. So zeigt ein Künstler, der sich Stelfie Time Traveller nennt, regelmäßig neue Bilder von sich, die ihn zusammen mit Dinosauriern, Picasso oder beim Bau der Pyramiden zu zeigen scheinen.

Populäre, wenngleich von Datenschützern kritisch betrachtete KI-Programme wie „Lensa AI“ laden die Nutzerinnen und Nutzer dazu ein, das eigene Bild in fantastische Avatare und kunstvolle, an Gemälde erinnernde Porträts zu verwandeln. „Face App“ lässt auf Knopfdruck das eigene Gesicht altern, verjüngen sowie die Geschlechtszuordnung ändern. Und 3D-Fotoprogramme, Nerfies genannt, ermöglichen es, dreidimensionale Selfies von sich zu erstellen.

Eine mit KI arbeitende App lockte im vergangenen Jahr sogar damit, dass man mit ihr „das letzte Selfie“ der Menschheitsgeschichte sehen könne. Die dahinterstehende Prognose ist allerdings wenig optimistisch: Die so erzeugten Bilder zeigten gespenstisch aussehende Monster-Menschen vor einer zerstörten Erde, die an dystopische Endzeit-Filme erinnerte.

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