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Bei Demonstrationen gehört das Smartphone inzwischen zur Grundausstattung, hier eine Szene 2019 in Hongkong.

© Imago/Zuma Press/Miguel Candela, Bearbeitung: Tagesspiegel

Vom Arabischen Frühling bis zur Tötung George Floyds: Vor 20 Jahren entstanden die ersten Handyfotos – und sie veränderten die Welt

Mobiltelefone mit eingebauter Kamera haben die politische und soziale Kommunikation umgewälzt. Ihr Siegeszug begann vor 20 Jahren.

„Eine der wichtigsten Erfindungen des Jahres“, schrieb das „Time“-Magazin im November 2003 über die ersten Mobiltelefone mit eingebauter Kamera, die damals auf den Markt kamen.

20 Jahre später haben Smartphone-Videos und Fotos in der politischen und sozialen Kommunikation einen festen Platz. Ein Rückblick.

1 Die Macht des Einzelnen

Sie wollte nur ein paar Snacks im Laden um die Ecke kaufen. Doch dann passierte vor dem Geschäft in Minneapolis etwas Außergewöhnliches, also zückte die 17-jährige Darnella Frazier ihr Smartphone und filmte los. Kurze Zeit später gingen ihre Aufnahmen über Facebook und Instagram um die Welt. Sie zeigen, wie ein Polizist auf dem Hals eines am Boden liegenden Mannes kniet, der nach Luft ringt. Kurz darauf stirbt George Floyd.

Die Aufnahmen vom 25. Mai 2020 lösten weltweit Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt aus, mit ihrer Hilfe konnten die verantwortlichen Polizisten verurteilt werden. Und sie sind das wohl bekannteste Beispiel einer Entwicklung, die man als Demokratisierung der visuellen Kommunikation bezeichnen kann.

Darnella Fraziers Smartphone-Aufnahmen von der Tötung George Floyds im Mai 2020 durch US-Polizisten gingen via Facebook und Instagram um die Welt.

© Imago/Zuma Wire/Darnella Frazier/Facebook

2003 begann der Siegeszug von Mobiltelefonen mit eingebauter Kamera. Die Fotos, die diese Geräte machten, waren zwar noch von schlechter Qualität. Aber mit der Verbreitung der neuen Technologie – Schätzungen zufolge wurden im ersten Jahr weltweit rund 80 Millionen Geräte verkauft – war der Grundstein gelegt für eine neue Form der sozialen Kommunikation.

„Ob Sie es mögen oder nicht, diese heißen neuen technischen Spielereien werden uns erhalten bleiben“, hieß es im November 2003 in der US-Zeitschrift „Time“. Die Prognose sollte sich bewahrheiten: Die neuen Geräte ermöglichten es, spontan und bequem Fotos in fast jeder Lebenslage zu machen, der einfache soziale Austausch mit dem Handy und später durch Smartphones sowie die ständige technologische Weiterentwicklung machten die Erfindung dauerhaft populär.

In Verbindung mit Social-Media-Plattformen wie YouTube und Facebook, die in den folgenden Jahren an Reichweite gewinnen sollten, hat seither zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte jeder und jede einzelne zumindest prinzipiell einen direkten Zugang zu einem globalen Publikum, mit dem man seine Fotos und Videos teilen kann.

2 Mit Handy bewaffnet

Einige der wichtigsten politischen Umwälzungen und Manifestationen der vergangenen Jahre wären ohne Mobiltelefonaufnahmen möglicherweise anders verlaufen und hätten vor allem viel weniger Aufmerksamkeit bekommen.

Die Proteste nach der iranischen Präsidentschaftswahl 2009 werden oft als erste „Twitter-Revolution“ bezeichnet, da über Soziale Medien verbreitete Bilder und Informationen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und der öffentlichen Wahrnehmung der Proteste spielten.

Der sogenannte Arabische Frühling, eine Serie von Protesten und Aufständen in mehreren arabischen Ländern ab Ende 2010, bekam von Beobachtern den Beinamen „die erste Smartphone-Revolution“ verliehen. Die mit den kleinen, handlichen Geräten aufgenommenen und im Internet geteilten Bilder prägten das öffentliche Bild jener Zeit, auch weil viele etablierte Medien in ihren Berichten mangels professioneller Fotos auf Aufnahmen von Menschen auf den Straßen zurückgriffen, die über Soziale Medien verbreitet worden waren.

Proteste in Tunis im Januar 2011. Der Arabische Frühling ab Ende 2010 bekam von Beobachtern den Beinamen „die erste Smartphone-Revolution“ verliehen.

© AFP/Fred Dufour

Bei Protestveranstaltungen in Deutschland spielen Fotos und Videos von Akteuren ebenfalls zunehmend eine Rolle. Dabei geht es oft um Selbstdarstellung, manchmal aber auch darum, die politischen Gegenspieler zu verunsichern und bloßzustellen. Zum Beispiel bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung. Im November 2020 verschafften sich während eines Protests einige Leute Zugang in das Bundestagsgebäude. „Mit Handykameras bewaffnete Personen laufen durch die Flure und bedrängen Mitglieder des Bundestages, gegen das Infektionsschutzgesetz abzustimmen“, hieß es damals in einem Zeitungsbericht.

3 Grenzenlose Möglichkeiten

Die Zeiten, in denen nur Staaten und große Nachrichtensender Bilder und Filme weltweit verbreiten konnten, sind dank der technischen Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre Geschichte. Smartphone-Kameras, die inzwischen bei vielen historischen Ereignissen und politischen Manifestationen in großer Zahl dabei sind, können ein machtvolles Werkzeug für Bürgerinnen und Bürger sein, sich mitzuteilen und sich ihrer selbst zu vergewissern.

Handyfotos vom Sturm auf das US-Kapitol in Washington im Januar 2021 wurden danach zur juristischen Aufarbeitung der Vorgänge benutzt. 

© AFP/Saul Loeb

Aber sie können auch als Hilfsmittel zur Sanktionierung benutzt werden. Nach dem Sturm auf das US-Kapitol in Washington im Januar 2021 riefen die Behörden dazu auf, ihnen Daten und Bilder von mobilen Geräten und Social-Media-Kanälen zur Verfügung zu stellen, um Verantwortliche des Putschversuchs identifizieren und juristisch belangen zu können.

In aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen wie in der Ukraine oder im Gazastreifen haben die Möglichkeiten der schier unbegrenzten Bilderproduktion ebenfalls widersprüchliche Konsequenzen. Einerseits können Zivilistinnen und Zivilisten mit ihren Fotos, Videos und Texten eine breite Öffentlichkeit über ihre Lage informieren und um Unterstützung werben, was den Betroffenen früherer Kriege nicht möglich war.

Andererseits ist es angesichts der Bilderflut für Außenstehende oft kaum möglich, diese Bilder in ihren Kontext einzuordnen, ihre Authentizität zu überprüfen und Information von Propaganda zu trennen.

Für professionelle Fotografinnen und Fotografen bringt die Entwicklung zudem eine weitere Problematik mit sich: Sie werden aus Sicht mancher Medienorganisationen zunehmend ersetzbar. So entließ der US-Nachrichtensender CNN bereits 2011 in Folge des Arabischen Frühlings ein knappes Dutzend Fotojournalisten – „wegen der zunehmenden Nutzung sozialer Medien“, wie damals der „Guardian“ schrieb.

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