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Katrin Langensiepen, credit: Sven Brauers
Pressefoto

© Sven Brauers

Europäischer Behindertenausweis: „Eine kleine soziale Revolution“

Noch in dieser Legislatur soll die „EU Disability Card“ kommen. Die EU-Parlamentarierin Katrin Langensiepen (Grüne) erklärt, was sich dann für Menschen mit Behinderung ändert.

In der Europäischen Union können sich alle Bürgerinnen und Bürger frei bewegen. Gilt das auch für Menschen mit Behinderungen?
Theoretisch ja. Aber je nach der Art der Behinderung stellen sich viele Probleme. Das fängt mit den praktischen Schwierigkeiten an – gibt es Aufzüge, komme ich in die öffentlichen Verkehrsmittel rein, sind Türen breit genug etc. – und reicht bis dahin, dass die Behindertenausweise eines europäischen Landes in anderen europäischen Ländern nicht anerkannt werden.

Was heißt das konkret?
Wenn ich zum Beispiel mit meinem deutschen Behindertenausweis und meiner deutschen Parkcard nach Belgien fahre, habe ich dort nicht das Recht, auf einem Behindertenparkplatz zu parken. Oder wenn ich in Frankreich Urlaub mache und dort mit dem Bus fahre, wird der Kontrolleur meinen Behindertenausweis nicht als Fahrausweis akzeptieren. Auch meine Begleitperson wird nicht kostenfrei fahren können.

Sie sind dann vom guten Willen der Kontrolleure abhängig …
… die einen auch mal durchwinken, vor allem, wenn man eine sichtbare Behinderung hat. Aber es gibt auch Behinderungen, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Und das Ziel muss ja sein, dass ich als behinderte deutsche Frau in Frankreich dieselben Rechte habe wie eine behinderte französische Frau. Das wollen wir mit der geplanten EU-Disability-Card erreichen.

Bisher sind die Regelungen der einzelnen Länder zu Behindertenausweisen sehr unterschiedlich.
Es ist ein Flickenteppich. Manche Länder haben gar keine Behindertenausweise, manche einen, manche zwei, und sie sind unterschiedlich ausgestaltet. In Deutschland gibt der Behindertenausweis den Grad der Behinderung an und enthält darüber hinaus Buchstaben wie „B“ für „Begleitperson“, „G“ wie „gehbehindert“ oder „H“ für „hilflos“. Das ist aus meiner Sicht eine gute Lösung und kann als Orientierung für den EU-Ausweis dienen. Aber unabhängig davon wie der EU-Ausweis genau aussehen wird: Die Hauptsache ist, dass Menschen mit Behinderungen auch im Ausland die Vergünstigungen in Anspruch nehmen können, die Behinderten in dem jeweiligen Land zustehen. Das können reduzierte Tickets sein oder auch das Recht auf Assistenz beim Einstieg in den Zug oder eben auf den Behindertenparkplatz.

Sagen wir, in Land X können Menschen mit Behinderung kostenfrei Regionalzug fahren, in Land Y nicht. Daran ändert sich auch durch den EU-Behindertenausweis nichts?
Natürlich nicht, es gelten immer die Regeln des Landes. Ich vergleiche das mit dem Führerschein: Sie können mit Ihrem deutschen Führerschein in Deutschland auf den Autobahnen 180 Stundenkilometer fahren. Überall woanders gibt es Tempolimits. An die müssen Sie sich halten – aber Ihr deutscher Führerschein wird überall anerkannt. Das ist mit dem deutschen Behindertenausweis nicht der Fall, deswegen brauchen wir eine europäische Lösung.

So ähnlich wird er aussehen: Der europäische Behindertenausweis.
So ähnlich wird er aussehen: Der europäische Behindertenausweis.

© EUROPEAN COMMISSION

Die EU-Kommission hat einen Vorschlag dazu vorgelegt, es gab ein Modellprojekt in acht Ländern, die Ausschüsse des Europäischen Parlaments beraten. Wann kommt die EU-Disability Card?
Ich bin zuversichtlich, dass wir das noch vor den nächsten EU-Wahlen hinbekommen. Das Europäische Parlament ist in behindertenpolitischen Fragen sehr geschlossen. Wenn das Gesetz beschlossen ist, geht es an die Umsetzung in den einzelnen Ländern. Wichtig ist aus meiner Sicht: Die Karte soll physisch und digital ausgegeben werden; die jeweiligen Institutionen der Länder müssen die Menschen informieren, dass sie diese Karte zusätzlich zu ihrem nationalen Behindertenausweis bekommen können; und: Das muss eine freiwillige Sache sein. Niemand wird gezwungen, sich eine EU-Disability-Card zuzulegen.

Besonders hilfreich wird die Karte für Menschen sein, die längere Zeit im Ausland leben, als Praktikanten etwa oder Erasmus-Studierende …
Ja, das ist für uns ein wichtiger Punkt: Auch Menschen mit Behinderungen sollen im europäischen Ausland arbeiten und studieren können, ohne dort etwa einen neuen, nationalen Ausweis beantragen zu müssen. Im Vorschlag der EU-Kommission für die Disability Card ist bisher nur von „short term“-Aufenthalten, also etwa drei Monaten, die Rede. Wir Grüne möchten, dass diese Zeit flexibler gestaltet wird und die Dauer für Teilnehmer*innen eines Europäischen Mobilitätsprogramms, wie zum Beispiel Erasmus, verlängert wird.

Für Menschen, die langfristig in ein anderes EU-Land ziehen, soll der EU-Behindertenausweis außerdem in der Übergangszeit zwischen der Beantragung eines neuen nationalen Ausweises dienen und garantieren, dass Personen in dieser Zeit ihre Sozialleistungen behalten können.

Warum ist das so wichtig?
Es ist ein aufwendiger, langwieriger Prozess, einen Behindertenausweis zu bekommen. In Deutschland etwa schickt das Landesamt für Versorgung die Betroffenen zu Amtsärzten, die feststellen, welche Behinderung vorliegt und welche Vergünstigungen bzw. welcher Nachteilsausgleich der jeweiligen Person zustehen. Diesen Prozess möchte niemand zweimal durchlaufen! Langfristig möchten wir, dass sich niemand noch einmal in einem anderen Land nackig machen muss, um dort einen Behindertenausweis zu erhalten. Die EU-Disability-Card ist für mich eine kleine soziale Revolution, ein großer Schritt hin zu einem sozialen Europa.

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