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Auf Trab. Das Pferderennen gehört zu den Attraktionen des Marktes.

© Johannes Drosdowski

Weihnachtsmarkt in Berlin: Rummel am Alex vor dem Aus?

Der Weihnachtsrummel hinter dem Alexa-Einkaufszentrum schrumpft von Jahr zu Jahr – und sucht jetzt dringend nach einem Ersatzquartier.

Fast im freien Fall rasen die Passagiere auf den Boden zu. Finger krallen sich in Oberschenkel. Dann schleudert der Arm des Fahrgeschäfts sie in hohem Bogen wieder in die Luft. Bei jedem Absturz ertönen Schreie, die man bis zur Jannowitzbrücke hört. Dabei sind es vor allem die Schausteller auf dem Weihnachtsrummel „Wintertraum“, die Grund zu kreischen hätten: Dieses Jahr könnte ihr letztes hinter dem Alexa sein; schon mehrfach ist der Markt geschrumpft.

Wo früher Rummel war, stehen nun Bauzäune, wälzen zwei Lastwagen in ihren Bäuchen Beton um. Hier sollen Wohnungen entstehen und Hotels, Läden und Restaurants. Große Teile des früher weitläufigen Geländes an der Alexanderstraße werden bereits bebaut. Auf der Fläche, deren Boden noch nicht aufgebrochen wurde, stehen die Buden und Fahrgeschäfte des Weihnachtsrummels.

Niemand weiß, wann auch der Rest des Gebietes bebaut wird, Clara Blume befürchtet: schon 2018. Seit zehn Jahren ist sie Veranstalterin des „Wintertraums“. Wenn die Bagger auf das letzte Stück Grund rollen, muss der Markt umziehen. „Nur wohin?“, fragt sich Blume.

Eine Berliner Institution

Es ist nicht das erste Mal, dass der Weihnachtsmarkt einem Bauvorhaben weichen muss. Bis 1973 war er auf dem damaligen Marx-Engels-Platz und auf dem Bebelplatz zuhause, dann begann der Bau des Palast der Republik. Im Folgejahr zog der Weihnachtsmarkt das erste Mal zum Alexanderplatz.

Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums, erzählt von der Zeit davor, vom „Geplärre“, das man bis in die Uni gehört habe, von kandierten Äpfeln direkt nach der Vorlesung. „Schon als ich ein kleines Kind war, sind wir dort jedes Jahr hingefahren. Die ganze Familie ist losgezogen.“

Später sei er selber mit seinen Kindern auf den Markt gegangen. „Es gehörte einfach dazu.“ So wie Wolle haben wohl viele Berliner empfunden, egal ob aus dem Osten oder dem Westen: Sie sind in Scharen auf den Markt geströmt.

Der Weihnachtsmarkt – schon damals auch Rummel – hatte eine besondere Stellung in der Ost-Berliner Bevölkerung, erklärt Wolle. „Es gab dort viel mehr und viel Besseres zu kaufen als das restliche Jahr über in den Geschäften: Töpferware aus der Lausitz, Holzschnitzereien aus dem Erzgebirge, Geschenke.“ Deswegen seien so viele Menschen gekommen. „Die Spuren des Politischen waren gering“, erklärt Wolle, „und auch der christliche Gehalt des Weihnachtsfests lag den Menschen fern.“ Es sei in Wahrheit eine Konsumorgie gewesen mit vielen Gästen und großem Gedränge.

Der Markt schrumpft

Nun steht ein einsamer Losverkäufer vor seiner Bude. Es regnet und ist kalt; die Besucher bleiben aus. „Früher waren die Losbuden besonders beliebt“, hatte Wolle erzählt. Heute macht sich Dennis Rasch Sorgen um seine „treuen Mitarbeiter“, wie er sagt. „Wir sind jetzt das siebte Mal mit dabei“, sagt der Besitzer der Losbude namens „Caesars Palace“.

Je kleiner der Markt wird, so scheint es, desto weniger Besucher kommen. Vielleicht ist auch das Wetter schuld. Wenn die Verkäufe nicht stimmen, wird es finanziell eng für die Schausteller, denn für manche von ihnen macht der Weihnachtsrummel 25 Prozent ihres Jahresumsatzes aus. „Für uns Schausteller ist der Markt sehr wichtig, weil wir davon die viermonatige Winterpause überleben müssen“, erklärt Rasch.

Je weniger Platz der Markt hat, desto weniger Betriebe können teilnehmen. „In Glanzzeiten waren es 110 Stände. Jetzt sind es nur noch um die 70“, sagt Blume. Auch sie sorgt sich um die Zukunft der Schausteller. Es seien „altbewährte Partnerschaften“, die auf dem Rummel herrschen. Blume möchte niemanden komplett ausschließen, deswegen mussten einige Schausteller, die bis vor wenigen Jahren mehrere Stände betrieben haben, bereits abspecken, haben jetzt nur noch eine Bude.

Ende des Jubels?

Auch wenn es an diesem Abend nicht so wirkt: Noch immer besuchen jährlich laut Blume etwa zwei Millionen Menschen den Rummel. Es locken nicht nur die Tradition und die zentrale Lage, sondern besonders die Fahrgeschäfte. Sie verlängern die Verweildauer der Besucher. Und darauf kommt es laut Blume an.

Hierher kommen Alt wie Jung. Teenie- Paare stehen Händchen haltend vor dem fast leeren Riesenrad, während eine besonders herzzerreißende Version von Ave Maria aus den Lautsprechern dröhnt. Alte Männer imponieren beim Bogenschießen ihren Begleiterinnen wie in Jugendjahren. Konzentriert wirft ein Junge Bälle in Löcher und treibt damit sein Blechpferd auf der Rennbahn voran. Auf den letzten Metern überholt es die Konkurrenz und schleppt sich knapp als erstes über die Zielgerade: eine Minute unbändiger Jubel.

Wie lange hier noch gejubelt werden kann, bleibt ungewiss. Dieses Jahr, sagt Blume, habe sie erst im Oktober erfahren, wie groß der Markt überhaupt werden kann.

Blume hält Ausschau

„Ich habe die letzten drei Jahre schon nach Ausweichmöglichkeiten gesucht, aber nichts gefunden“, erklärt sie. Dennoch will sie unbedingt in Mitte bleiben, nicht aus dem Stadtzentrum weichen, denn anderswo – so befürchtet Blume – dürften weniger Besucher kommen. Doch das Gelände muss nicht nur gut angebunden sein: Gutachten sind erforderlich, viele Vorschriften zu erfüllen. Es geht um Lärmschutz und die Akzeptanz der Anwohner.

Selbst falls sie eine Alternative findet, bezweifelt Blume, dass sie dort wieder zehn Jahre bleiben kann. Trotzdem bleibt sie optimistisch. „Das Leben der Schausteller ist improvisiert und so wird es weitergehen: immer improvisierend. So haben wir das gelernt, das können wir.“ Was mit dem Gelände tatsächlich passieren wird, vermögen auf Nachfrage weder Senat noch Bezirk zu sagen.

Auf dem Balkon der Geisterbahn steht gerade eine verhüllte Person. Plötzlich lässt sie mit einer Angel eine Riesenspinne auf die nichts ahnenden Passanten herab. Die Leute kreischen und springen. Manche fluchen vor Schreck, bevor sie lachend zum nächsten Glühweinstand gehen. Für sie ist es ein heiteres Erschauern. Aber unter dem Balkon steht in großen Buchstaben „Weg ins Ungewisse“. Das könnte auch überm Eingang zum ganzen Markt hängen.

Johannes Drosdowski

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