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The Stolperstein in Wilmersdorf dedicated to Gertrud Kirsch was laid in April 2013.

© F. Siebold/berlin.de

Holocaust-Erinnerung in Berlin: Besuch aus London am Stolperstein für die Mutter

Helga Kirsch floh 1939 aus ihrer Heimatstadt Berlin vor den Nazis nach London. Ihre Mutter Gertrud blieb zurück und wurde von den Nazis ermordet.

Es ist ein grauer Berliner Sonntagmorgen. Auf einem Gehweg in Wilmersdorf stehen drei Menschen im Nieselregen. Sie kommen aus London, jetzt haben sie ihr Ziel erreicht: eine kleine Bronzeplatte, subtil zwischen die Pflastersteine eingefügt. Ein Stolperstein, das einzige Denkmal an eine frühere Bewohnerin dieser Straße, Gertrud Kirsch.

Helga Lemer lässt ihren Blick hinauf wandern zum zweiten Stock der Güntzelstraße 62. Hier wohnte die mittlerweile 94-Jährige Ende der 30er Jahr zusammen mit ihrer Mutter, bevor sie wegen der Nazis nach Großbritannien flüchtete. In London war sie allein. Ihre Mutter Gertrud Kirsch blieb in Berlin und wurde 1942 von der Gestapo gefangen.

Helga und Gertrud Kirsch in Berlin in den späten Zwanzigerjahren.
Helga und Gertrud Kirsch in Berlin in den späten Zwanzigerjahren.

© Familienarchiv Lemer/Anders, London

Eine kleine Gruppe von Nachbarn ist jetzt gekommen, um der Familie von Gertrud Kirsch ihre Aufwartung zu machen. "Warum ist ihre Mutter nicht auch geflohen?" fragt eine Dänin, die heute in der Güntzelstraße wohnt. "Sie wusste doch, was passieren würde?" Helga Lemer schüttelt den Kopf. "Ohne die richtigen Papiere konnte sie Deutschland nicht verlassen. Meine Mutter dachte, dass sie eine Fluchtmöglichkeit gefunden hätte, aber die Dokumente sind nie angekommen." Nach diesen Worten ist die Gruppe einen Moment lang sehr still.

Helga Lemer vor der Tür der "Pension Güntzel" im Haus Nummer 62. Ihre Mutter Gertrud Kirsch führte hier bis zu deren Deportation ebenfalls eine Pension.
Helga Lemer vor der Tür der "Pension Güntzel" im Haus Nummer 62. Ihre Mutter Gertrud Kirsch führte hier bis zu deren Deportation ebenfalls eine Pension.

© privat

Wie viele, viele andere Juden wurde Helgas Mutter Gertrud nach ihrer Gefangennahme 1942 von den Nazis nach Riga deportiert. Nach einer dreitägigen Zugfahrt unter widrigsten Bedingungen wurde sie im Wald von einer SS-Einsatzgruppe erschossen und namenlos in einem Massengrab beerdigt. Mehr als siebzig Jahre lang war der Name Gertrud Kirsch offiziell nur noch in den sorgfältig notierten Akten der Nazi-Behörden verzeichnet. So blieb es bis zum vergangenen April. Damals beantragten ihre Nachkommen, ein Stolperstein möge vor ihrem letzten Wohnsitz in den Boden eingelassen werden. "Hier wohnte Gertrud Kirsch, geb. Löwenberg, 1895" lautet jetzt die Inschrift auf der viereckigen Platte, "deportiert 15.8.1942, ermordet 18.8.1942".

Gertrud Kirsch wurde 1942 im Alter von 47 Jahren von den Nazis ermordet. Im April 2013 wurde zu ihrem Gedenken ein Stolperstein vor der Güntzelstraße 62 verlegt.
Gertrud Kirsch wurde 1942 im Alter von 47 Jahren von den Nazis ermordet. Im April 2013 wurde zu ihrem Gedenken ein Stolperstein vor der Güntzelstraße 62 verlegt.

© Familienarchiv Lemer/Anders, London

"Ich habe erst letztes Jahr überhaupt von diesen Stolpersteinen gehört", sagt Gertruds Enkeltochter Barbara Anders. An diesem Novemberwochenende ist sie jetzt zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Berlin gekommen, um das Denkmal an ihre Großmutter zum ersten Mal zu besuchen.

"Die Nazis versuchten, jede Spur ihrer Opfer zu vernichten", erzählt Helmut Lölhöffel, Koordinator des Stolpersteinprojektes in Charlottenburg-Wilmersdorf, der gesammelten Gruppe. Die Platten, die sich mittlerweile überall in Europa befinden, seien dezentralisierte Denkmale, um die Namen der Nazi-Opfer und damit auch die Erinnerung an sie an ihre letzten Wohnsitze zurückzubringen.

Als Helga Lemer jetzt zum ersten Mal seit 74 Jahren wieder die Güntzelstraße 62 betritt, erkennt sie sofort den verzierten Hausflur, den Art-Deko-Aufzug, die Balkone und die Buntglastüre. Für die alte Dame ist das ein Schritt zurück in die Vergangenheit, in ihr Leben als junge Frau. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1937 zog Gertrud Kirsch mit ihrer damals 16 Jahre alten Tochter Helga in die Pension in der Güntzelstraße. In der Pension hätten damals mehrere Juden gelebt, die ihre Wohnung schon verkauft hatten und auf eine Flucht aus Deutschland hofften, erinnert sich Helga Lemer. Auf einer gerahmten Liste der ehemaligen Bewohner liest sie dann den Namen "G. Kirsch, Witwe".

Die als Jüdin erzogene Helga erinnert sich noch gut an den sozialen Abstieg ihrer Familie nach Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933. "Ich hatte damals eine gute nichtjüdische Freundin. Als Hitler an die Macht kam, redete sie nicht mehr mit mir. Als ich sie gefragt habe, was los sei, erklärte sie mir, ihr Vater sei ein Nazi", sagt Helga.

Solche Erlebnisse und die tägliche Routine, "Heil Hitler" im Chor mit ihren Mitschülern grölen zu müssen, wurden für Helga zur Last. Im Mai 1935 bat sie um einen Wechsel an eine jüdische Schule. "Ich wollte mit anderen Juden zusammen sein", erinnert sie sich.

Helga Lemer mit Helmut Lölhöffel von der Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf.
Helga Lemer mit Helmut Lölhöffel von der Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf.

© privat

Im darauf folgenden Jahr durfte die enthusiastische Sportlerin Helga Lemer ein kleines persönliches Glückserlebnis feiern, als sie den berühmten Goldmedaillengewinn des schwarzen US-Sprinters im Berliner Olympiastadion miterlebte. "Ich war an dem Tag im Stadion, als Jesse Owens gewonnen hat", sagt Helga. "Ich saß gegenüber von Hitler, der Herrn Owens nicht die Hand schütteln wollte." Und sie erinnert sich: "Als die Spiele in Berlin stattfanden, nahm man kurzfristig alle Plakate mit Slogans wie “Juden verboten” ab. Einen Tag nach dem Ende der Spiele hingen sie alle wieder an Ort und Stelle."

Wie viele Juden erkannte Helgas Familie die echte Bedrohung durch das Nazi-Regime erst, als ihr Onkel während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 festgenommen wurde und für kurze Zeit in ein KZ kam. Nach seiner Entlassung war Helgas Onkel dazu entschlossen, die ganze Familie außer Landes zu bringen, solange noch die Möglichkeit dazu bestünde.

"Er sagte meiner Mutter, sie müsste mich wegschicken, dass es für mich kein Leben in Deutschland mehr gebe", erinnert sich Helga Lemer. Nach ein paar Monaten kam Gertrud endlich an die richtigen Dokumente und ein Ticket für die Schiffsreise nach England für ihre mittlerweile 18 Jahre alte Tochter. Helga musste Deutschland allerdings alleine verlassen, mit nur wenig Gepäck und noch weniger Geld. "Es war schrecklich", erinnert sich die Tochter. "Meine Mutter kam mit mir nach Hamburg. Wir konnten noch nicht einmal irgendwo etwas essen, weil überall die Plakate hingen, auf denen stand "Juden verboten"." Es war der 19. April 1939 – ein Tag vor dem 50. Geburtstag Adolf Hitlers. Helga sah ihre Mutter nie wieder.

Viele andere Mitglieder ihrer Familie flüchteten ebenfalls, die meisten nach Schanghai. Das war einer der wenigen Orte, an denen jüdische Flüchtlinge ohne Visum aufgenommen wurden. Gertrud aber verließ Berlin nicht. "Mein Onkel floh mit meiner Großmutter nach Schanghai und wollte meine Mutter mitnehmen. Aber sie sagte: "Es gibt jetzt Krieg. Hitler wird keine Zeit für Juden haben.""

Helga Lemer arbeitete in London für eine britische Familie als Dienstmädchen. Sie wusste nicht, was ihrer Mutter für ein Schicksal bevorstand. In den drei Jahren bis 1942 konnten die beiden nur durch schwer zensierte Briefe Kontakt zueinander halten. Und selbst diese Briefe mussten über Belgien und später die USA geschickt werden. "Meine Mutter konnte darin nicht viel schreiben", sagt Helga Lemer, "sie wusste, dass die Behörden die Briefe öffneten und lasen. Dass meine Mutter verhaftet worden war, hat mir dann die Mutter einer Freundin gesagt. Die Einzelheiten aber habe ich erst nach dem Krieg erfahren."

Am 15. August 1942 kam die Gestapo in die Güntzelstraße, um die damals 47-jährige Gertrud Kirsch zu verhaften. Zuerst brachte man sie zu einem Sammelplatz in Mitte, danach zum Bahnhof Moabit. Dort wartete der Zug, der sie und 1003 andere Juden nach Riga bringen würde. Als sie dort ankamen, wurden alle Deportierten in den Wald geführt und von einem Exekutionskommando erschossen.

"Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist." So wird der Berliner Künstler und Erfinder der Stolpersteine, Gunter Demnig, oft zitiert. 5000 der kleinen Denkmale sind seit 1996 in das Trottoir der Hauptstadt eingelassen. Sie markieren die letzten Wohnsitze ermorderter Juden, Homosexueller, Sinti und Roma Berlins, sowie die einiger politischer und religiöse Gegner der Nazis.

Helga und ihre Familie verlassen Berlin am Abend wieder. Vorher aber besuchen sie noch das jüdische Museum, den jüdischen Friedhof in Weißensee und das Holocaust-Denkmal. Sie hoffen, dass der Stolperstein den Namen ihrer ermordeten Mutter und Großmutter in Berlin, der Heimatstadt Gertrud Kirschs, verewigen wird.

In den kommenden Jahrzehnten wird die kleine Bronzeplatte immer mal wieder einem neugierigen Passanten auffallen. Der wird sich hinunterbeugen und Gertrud Kirschs Namen lesen. Ein kleiner, andauernder Akt des Widerstands gegen diejenigen, die diesen Name und so viele andere auslöschen wollten. Josie Le Blond (English version of her article here)

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