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Anwältin Christina Clemm vertrat die Frau vor Gericht.  

© Bearbeitung: Tagesspiegel/Foto: Tagesspiegel/Mario Heller

Berliner Anwältin über Femizide vor Gericht: „Was ich oft erlebe, ist Selbstmitleid der Angeklagten“

In Berlin terrorisiert ein Mann seine Exfreundin, droht, sie umzubringen. Dann schlägt er zu. Anwältin Christina Clemm über die Opfer und Täter von geschlechtsspezifischer Gewalt.

In Berlin terrorisiert ein Mann monatelang seine Exfreundin. Er akzeptiert nicht, dass sie die Beziehung beendet hat. Immer wieder droht er, sie umzubringen. Dann schlägt er zu. In einer neuen Folge des Tagesspiegel-Podcasts „Tatort Berlin“ spricht Anwältin Christina Clemm über die Opfer und Täter von geschlechtsspezifischer Gewalt und bestürzende Fehleinschätzungen vor Gericht.

Frau Clemm, eine Mandantin von Ihnen wurde Opfer eines Mordversuchs, nachdem ihr Ex genau diese Tat immer wieder angekündigt und ihr mehrfach aufgelauert hatte. Wie konnte das passieren?  
Zunächst ist es wichtig zu begreifen, dass es sich hier nicht um einen extremen, einmaligen Einzelfall handelt. Statistisch gesehen versucht in Deutschland jeden Tag ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Und jeder dritte Versuch gelingt. In diesem Fall hatte meine Mandantin mehrfach die Polizei um Hilfe gerufen, den Mann nach körperlichen Angriffen auch angezeigt. Aber die Sache wurde nicht hoch genug gehängt – auch dies erlebe ich oft. Es muss endlich verstanden werden, dass solche Täter ihre Drohungen tatsächlich ernst meinen. Wenn verlassene Männer ankündigen, ihre Ex-Partnerinnen umzubringen, sollten alle Alarmglocken läuten.

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Ihre Mandantin, die wir im Podcast Lina Kallel nennen, traf damals eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen. Zum Beispiel tauschte sie das Wohnungsschloss aus, ihre Mutter zog bei ihr ein.
Die Mutter hatte begriffen, in welcher Gefahr die Tochter steckte. Sie ging auch extra nochmal zur Polizei und forderte, dass entschlossener gegen den Mann vorgegangen werde. Sie sagte zu den Beamten: „Wisst Ihr nicht, dass es so etwas wie Femizide gibt? Da müsst Ihr drauf achten.“ Was Lina Kallel und ihre Mutter damals nicht ahnten: Der Exfreund besaß noch einen Schlüssel zum Keller der Wohnung, dort richtete er sich heimlich ein Lager ein.

Nach einer weiteren Morddrohung beantragte Kallel beim Amtsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz. Das Gericht stimmte zu.
Ab diesem Moment durfte sich Hamdi ihr nicht mehr nähern und nicht mehr versuchen, Kontakt aufzunehmen. Doch es brachte nichts. Das Gewaltschutzgesetz ist hilfreich bei Tätern mit nicht besonders hoher krimineller Energie, also bei solchen, die noch erreichbar sind und die Tatsache ernst nehmen, sich strafbar zu machen, sollten sie gegen die Verfügung verstoßen. Bei Tätern, die nichts zu verlieren haben und einfach nur ihr Interesse durchsetzen wollen, ist das Gewaltschutzgesetz dagegen ein sehr stumpfes Schwert.

Eines Tages lauerte der Mann Kallel im Aufzug auf, stach mit mehreren Messern auf sie ein. Ist diese Tat für Sie ein klarer Fall von Frauenhass?
Eindeutig. Der Täter akzeptierte nicht, dass meine Mandantin es gewagt hatte, sich ihm zu entziehen. Dass sie ihn – nachdem er gewalttätig war und sie angelogen hatte – aus ihrer Wohnung warf. Aus seiner Sicht hatte sie ihn degradiert. Aus seiner Sicht hatte er das Recht, über sie zu verfügen. Ich begreife Frauenhass in der Regel auch nicht als überschäumende Emotion, sondern eher als eine emotionale Gewohnheit, Frauen zu verachten. 

Als sich der Exfreund von Lina Kallel ein halbes Jahr später für seinen Mordversuch vor Gericht verantworten musste, vertraten Sie das Opfer als Nebenklägerin. Haben Sie dort irgendeine Form von Reue oder Mitleid von Seiten des Angeklagten wahrgenommen?
In keiner Sekunde. Häufig begegne ich in den Prozessen Tätern, die sich zwar nicht schuldig bekennen, aber zumindest ausdrücken, dass es ihnen leidtut. Nicht einmal das gab es hier. Stattdessen war der Mann immer noch sehr wütend, dass meine Mandantin es gewagt hatte, ihn zu verlassen. Was ich im Gerichtssaal oft erlebe, ist Selbstmitleid der Angeklagten. Darüber, dass sie in Haft sind, dass sie ihre Kinder nicht mehr sehen können oder auch, dass sie kleinere Verletzungen bei den Auseinandersetzungen erlitten haben. Dann sitzen sie vor der Richterin und jammern über die eigene Verletzung und ignorieren, dass ihrer Expartnerin mehrere Zähne fehlen.

In Ihrem kürzlich erschienen Buch „Gegen Frauenhass“ beschreiben Sie detailliert, welche Formen von Gewalt Frauen auf offener Straße, auf der Arbeit oder auch beim Arztbesuch erleben müssen – und weshalb viel zu wenige Taten geahndet werden. Was hält Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt davon ab, vor Gericht zu ziehen?
Dafür kann es viele Gründe geben. Zum Beispiel die Angst, dass sich der Täter später rächen wird. Dass er versuchen wird zu vollenden, was ihr antun wollte. Oder die große Angst davor, dass ihr nicht geglaubt werden könnte. Oder ihr eine Mitschuld gegeben wird. Dazu kommt die Sorge vor der Konfrontation mit dem Täter im Gerichtssaal: ihn nochmal sehen und sich seine Lügengeschichten anhören zu müssen. Furchtbar ist es auch, wenn im persönlichen Umfeld Solidarität mit dem Täter entsteht und das Opfer fertig gemacht wird, weil es Anzeige erstattet hat oder jedenfalls als Zeugin aussagt. Womöglich wird der verletzten Person vorgeworfen, sie habe den Täter ins Gefängnis gebracht, sei schuld an seiner Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit oder was auch immer. Eine völlige Verdrehung also. 

Sie berichten auch von sogenannten „Vergewaltigungsmythen“, die in deutschen Gerichtssälen zuhauf anzutreffen seien. Was meinen Sie damit?
Etwa wenn Richterinnen und Staatsanwälte genaue Vorstellungen davon haben, wie sich ein Opfer einer Vergewaltigung typischerweise verhält. Dann bezweifeln sie, dass jene, die diesem Schema nicht entsprechen, echte Vergewaltigungsopfer sind. Oder sie glauben, dass Frauen Vorteile aus Anzeigen zögen, generell übertreiben, lügen oder missinterpretieren würden. Viele dieser Vorstellungen beruhen auf Klischees, die wenig bis gar nichts mit der Realität zu tun haben.

Zum Beispiel?
Ein Klassiker ist die Vorannahme, dass sich die Frau nach einer Vergewaltigung in einer Beziehung sofort von ihrem Partner trennt. Jedenfalls keinen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mehr mit ihm hat oder sich schlagartig entliebt. Nach dem Motto: Wäre die Gewalt tatsächlich schlimm gewesen, wäre sie nie bei diesem Mann geblieben. Oder die Annahme, Sie würde Verletzungen dokumentieren, sonst könnten diese nicht schlimm gewesen sein. Wer sich mit der Materie auskennt, der weiß, dass dies Quatsch ist. 

Auch Verteidiger argumentieren bisweilen mit solchen Mythen. Regt Sie das auf?
Es gehört zu ihrem Job, Zweifel zu säen. Worüber ich mich aber aufrege, ist, wenn meine Mandantinnen respektlos behandelt werden. Wenn über sie gelacht wird und wenn Verteidiger Methoden anwenden, die einfach bloß darauf ausgelegt sind, die mutmaßlichen Opfer fertig zu machen. Verteidigerinnen müssen versuchen, Zeuginnen zu verunsichern, die gegen den eigenen Mandanten aussagen, sie müssen sie aber nicht diskreditieren. Dafür habe ich null Verständnis. Neulich erklärte ich während eines Prozesses, dass meine Mandantin den Angeklagten aus Scham nicht sofort angezeigt habe. Da unterbrach mich der Verteidiger und rief „Ach, Frau Kollegin, das ist ja voll 90er Jahre. Heute schämt sich doch keine mehr, nur weil sie vergewaltigt wurde!“ So was muss man erst einmal wagen, auszusprechen.

Trauen sich so etwas nur männliche Verteidiger?
Nein, es gibt auch Kolleginnen, die ernsthaft sagen: „Also, wenn ich vergewaltigt würde, wüsste ich mich zu wehren, spräche später nicht noch einmal mit dem Täter, würde ihn sofort verlassen.“ Sie tragen das mit arroganter Selbstsicherheit vor, als sei es völlig abwegig, etwas anderes zu glauben. Sie spielen dann mit einem angeblichen weiblichen Sonderwissen. Ich weiß nicht, ob diese Kolleginnen sich selbst glauben oder dies nur taktisch behaupten. In jedem Fall denken Kollegen unabhängig vom Geschlecht, dass frauenverachtende Klischees im Gerichtssaal aussprechbar und hilfreich zur Verteidigung sind. Und damit haben sie leider allzu oft recht.

Inwieweit beeinflussen derartige Vorannahmen Ihrer Erfahrung nach die tatsächliche Urteilsfindung?
Sehr. Zum Beispiel gibt es die Vorannahme, dass eine vergewaltigte Frau nach der Tat über einen gewissen Zeitraum hinweg keinen Spaß mehr an Sex haben könnte oder auch keinen Sex mehr hat. Was so pauschal einfach nicht stimmt. Ich kenne Mandantinnen, die überhaupt keine Männer mehr in ihrer Nähe ertrugen, geschweige denn körperliche Nähe zuließen. Andere hatten viel Sex, mit unterschiedlichen Männern. Nach dem Motto: „Ich lasse es nicht zu, dass die Tat Auswirkungen auf meine Sexualität hat, auf meinen Spaß daran.“

Eine Mandantin hatte zum Beispiel über die Datingapp Tinder einen Mann kennengelernt, der sie bei ihrem ersten Date vergewaltigte. Es gab sogar Verletzungsspuren, die Beweislage war recht gut. Bis dann im Prozess ein Schöffe fragte, ob sie nach diesem Vorfall eigentlich weiterhin Tinder nutze. Sie sagte ja, sie habe danach noch mit vielen anderen Männern Geschlechtsverkehr gehabt – sie wolle es sich doch von ihrem Vergewaltiger nicht nehmen lassen, ihre Sexualität frei auszuleben. Die Antwort führte dann laut der mündlichen Urteilsbegründung tatsächlich zu einem Freispruch, weil das Gericht der Überzeugung war, dass ein echtes Opfer nicht so handeln würde. Fatal.

Wie erleben Sie Ihre Mandantinnen, wenn das Gericht ihnen am Ende doch glaubt und die Täter ins Gefängnis müssen?
Viele bekommen einen Schreck, wenn ein Täter zu einer hohen Strafe verurteilt wird, einfach weil sie befürchten, dass der Hass auf sie nun umso größer wird. Dass sie sich auf Repressalien einstellen müssen, wenn der Täter aus der Haft entlassen wird, oder dass sich Freunde oder Verwandte des Täters rächen werden. Diese Unsicherheit steigert sich, wenn es etwa den Verurteilten gelingt, die Opfer aus der Haft heraus zu kontaktieren, anzurufen. Das passiert leider häufig.

So geschieht es auch in dem Fall unserer Podcastfolge: Da meldete sich der Täter aus dem Gefängnis und fragt Lina Kallel, ob sie nach seiner Haft nicht gemeinsam auswandern wollen…
Später schrieb er ihr noch einen Brief und fragte sie, ob sie ihm nicht verzeihen wolle – er sei im Gegenzug auch bereit, ihr zu verzeihen. Das war wie ein weiterer Schlag ins Gesicht für meine Mandantin.

Sie helfen Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt seit bald drei Jahrzehnten. Hat sich der Umgang der Justiz mit den Opfern über die Zeit verändert?
Einerseits gibt es Verbesserungen, wie bestimmte Opferrechte. Ich denke da an die Möglichkeit zur Videovernehmung schon im Ermittlungsverfahren oder auch später in der Hauptverhandlung. Es gibt die psychosoziale Prozessbegleitung, das sind dazu ausgebildete Personen, Zeuginnen durch die Verfahren zu begleiten, um weitere Traumata durch die Verfahren zu verhindern. Es wurden auch bestimmte Informationsrechte geschaffen, wie etwa zu erfahren, wenn der Täter aus der Haft entlassen wird oder ihm Haftlockerungen zugesprochen werden. Das Sexualstrafrecht hat sich auch materiell verbessert.

Aber es besteht immer noch so viel Handlungsbedarf: Wir haben keine verpflichtenden Fortbildungen für Richter in diesem Bereich. Die Verurteilungsquoten haben sich überhaupt nicht verbessert. Ich würde sogar sagen, wir erleben in den letzten fünf Jahren einen regelrechten Backlash. Oft herrscht die Einstellung vor, Gleichberechtigung sei doch nun wirklich erreicht, jetzt sollen die Frauen aufhören zu jammern, sondern sich einfach wehren. Keine Frau müsse mehr Opfer sein, heutzutage wäre sie wirklich selbst schuld, wenn das passiere. Schön wäre, wenn dies stimmte. Aber dorthin ist es noch ein weiter Weg.

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