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Durch die Datenbrille. Jan Claas van Treeck ist Wissenschaftler an der HU.

© Kitty Kleist-Heinrich

Mein digitales Leben: Vom Mensch zur Maschine

Cyborgs sind keine Zukunftsvision mehr. In der Medizin gibt es bereits „Körpermodifikationen“, bald könnte daraus ein Trend werden. Ein Stück aus der Tagesspiegel-Serie "Mein digitales Leben".

Das Ding in seinem linken Unterarm sieht verstörend aus. Der US-Amerikaner Tim Cannon hat sich einen Miniaturcomputer implantieren lassen. Die kleine Platine sitzt gut sichtbar knapp unter der Haut und misst unter anderem die Körpertemperatur. Bei starken Veränderungen schickt der Chip eine Warn-Mail. Als sich der Amerikaner im Jahr 2013 den Computer einpflanzen ließ, war das eine kleine Sensation, weil es keine medizinische Notwendigkeit für den Eingriff gab. Auch jetzt noch, drei Jahre später, gehen nur wenige Biohacker so weit wie er.

Jan Claas van Treeck arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medientheorien an der Humboldt-Universität in Berlin. Eines seiner Forschungsfelder sind Cyborgs, also Menschen, die wie Tim Cannon ihren Körper modifizieren. Van Treeck ist einer der wenigen Wissenschaftler, die sich mit diesem Themengebiet beschäftigen. Dabei ist der Begriff Cyborg schon weit über fünfzig Jahre alt: Das Kunstwort setzt sich aus den Begriffen cybernetic und organism zusammen und bezeichnet ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. Cyborgs werden oft verkürzt als Mensch-Maschinen bezeichnet.

Der Begriff Cyborg stammt aus der Raumfahrt-Forschung

Geprägt wurde der Begriff in den 1960er Jahren von den Wissenschaftlern Manfred Clynes and Nathan S. Kline. Hintergrund war der Weltlauf zum Mond, der viele Fragen aufwarf: Wie muss sich ein Mensch an seine neue Umwelt anpassen, wenn er in den Weltraum geschossen wird? Wird der Mensch, der in seinem Raumschiff vor allem Knöpfe drückt, selbst zu einer ferngesteuerten Maschine? Ist es dann nicht sinnvoll, den Körper durch künstliche Bauteile zu ergänzen? In den Jahrzehnten danach tauchte der Begriff Cyborg allerdings weniger im Alltag – nicht einmal in dem von Astronauten – als in der populären Science-Fiction-Literatur oder in Serien wie „Star Trek“ auf.

Einer der wenigen, der von sich sagen kann, er sei ein Cyborg, ist der Berliner Enno Park. In seiner Jugend verlor er nach einer Masernerkrankung weitgehend sein Gehör. Dass er nun doch wieder hören kann, verdankt er einer Operation im Virchow Klinikum und einem Gerät namens „Cochlear Nucleus N5“, das er direkt am Kopf trägt und das über winzige Elektroden die in elektrische Signale umgewandelten Schallwellen direkt über Ausfräsungen am Schädel zu einem Implantat leitet.

Van Treeck versteht sich als Wissenschaftler dagegen als neutraler Beobachter. Allerdings mit einer großen Faszination für alle technischen Entwicklungen. Der 40-Jährige zählt sich selbst zur Medienumbruchgeneration, die von der Wählscheibe über den C64-Homecomputer bis hin zum Internet alle Entwicklungen mitgemacht hat. Schon in seiner Jugend ahnte er: „Da kommt noch viel mehr.“ Seinen Doktor hat er in Yale gemacht, jetzt forscht er zu Cyberspace und Mensch-Maschine-Schnittstellen. Das Angebot der Humboldt-Uni war für ihn wie ein persönlicher Jackpot.

Auch für van Treeck gibt es einen medizinischen Grund, warum er keine übermäßigen Bedenken gegen einen Eingriff hätte. „Ich habe Orthosklerose. Auf einer Seite bin ich so gut wie taub.“ Nun wartet er auf eine Operation, bei der ihm die verkalkten Gehörknöchel durch Titanstifte ersetzt werden. Aber auch sonst steht er Körpermodifikationen durchaus offen gegenüber. „Eine Schnittstelle zum Internet wäre etwas, was ich sehr gerne hätte. Wobei mir wahrscheinlich eine verbesserte Google-Glass-Variante auch reichen würde“, sagt er und ergänzt: „Wenn es eine Science-Fiction-Wunschliste gäbe, hätte ich gerne Augen, die auf Knopfdruck in Infrarot sehen können. Dann könnte ich im Dunkeln gut sehen.“ Einen ersten Schritt in diese Richtung hat er getan, als er Mitglied des Berliner Vereins „Cyborg e.V. Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik“ wurde. Enno Park gehört zu den Vereinsgründern, inzwischen zählt der Verein rund 20 aktive Mitglieder.

Noch gibt es sehr wenige Biohacker

Noch ist Biohacking allerdings ein Thema für eine sehr kleine Gruppe von Menschen. „Tatsächlich ist es aber nur noch eine Frage von Zeit und Definition, bis daraus auch ein wirtschaftlich interessanter Trend wird“, sagt van Treeck. Bereits jetzt tragen Millionen von Menschen permanent Fitness-Armbänder und smarte Uhren, die verschiedenste Körper-Daten messen und an Smartphones, Tablets und das Internet weitergeben. „In zehn Jahren werden smarte Brillen wie Google Glass oder die von Zeiss genauso verbreitet sein wie heute Smartphones“, glaubt van Treeck, für den die Menschen mit ihrer Abhängigkeit von Maschinen bereits seit langem Cyborgs sind.

Der große Türöffner für diese Technik könnte die Medizin werden – besonders bei Risikopatienten. „Noch fürchten sich viele Menschen davor, dass die körperliche Schwelle gebrochen wird“, sagt der HU-Wissenschaftler. „Doch die Vorteile überwiegen vor allem bei Herzattacken oder Schlaganfall-gefährdeten Menschen.“ Als erster Patient hat in Berlin ein 72-jähriger Rentner einen so genannten SOS-Chip implantiert bekommen, weil er Herzrhythmusstörungen hat. Der Mini-Chip wurde über seinem Herz in die Haut geschoben. Wie ein EKG misst er den Herzrhythmus und sendet im Notfall eine Warnung an die Klinik. Die Kosten von 2800 Euro zahlt die Krankenkasse.

Aber auch in der Wirtschaft werden Cyborg-Techniken Einzug halten, Stichwort Assistenzsystem. „In den nächsten zehn Jahren werden alle großen Autowerkstätten mit Assistenzsystemen ausgerüstet sein, die den Technikern unter anderem über smarte Brillen oder holografische Systeme genaue Reparaturanleitungen geben“, glaubt der Forscher. Über Verfahren zur Mustererkennung sieht die Kamera dabei zum Beispiel, welche Schrauben gelöst werden müssen. „Das ist das wahre Einfallstor für Cyborgs“, sagt van Treeck.

Großes Interesse an dieser Technik hat speziell in Amerika das Militär. „Implantate sind dort allerdings gar nicht das große Thema. Sie sind teuer, sind wartungsintensiv und müssen mittels Operation ausgetauscht werden, wenn die Chips veraltet sind.“ Bevorzugt würden darum eher körpernahe Modifikationen beispielsweise durch Exo-Skelette und Augmented-Reality-Systeme, bei denen Karten direkt in den Helm projiziert werden.

Bei aller Faszination für die Technik sind gerade Cyborg-Fans nicht blind für die Gefahren: „Im Cyborg e.V. findet man niemanden, der an Mark Zuckerbergs Post Privacy glaubt“, sagt van Treeck. „Nur wenige Vereinsmitglieder haben etwa eine Payback-Karte, sind besonders sensibilisiert in Fragen von Big Data, Tracking, Bezahlsysteme. Möglicherweise sind sie sogar mündigere Bürger im Umgang mit Technik.“ Solange dafür kein Mini-PC im Unterarm benötigt wird wie bei Tim Cannon, muss man dafür allerdings kein Mitglied im Cyborg-Verein sein.

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