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Im Präpariersaal. Um die Ärzte-Ausbildung an der Charité sicherzustellen, sind jedes Jahr 100 Leichen nötig. 2015 waren es nur 86.

© Kitty Kleist-Heinrich

Körperspende: Das Kapitel nach dem Tod

Wer als Leiche in die Lehre geht, hilft angehenden Ärzten Anatomie zu verstehen. Doch wie erleben die Studierenden den "Präp"-Kurs? Und was bewegt die Körperspender? Eine Recherche zu einem sensiblen Thema.

Da liegt sie. Ihre Haut ist fahl, die Glieder sind steif. Puls? Fehlanzeige. Eigentlich ist hier nichts mehr zu machen. Dario Markovic und Jan Zoske haben trotzdem alle Hände voll zu tun. Die zierliche 93-Jährige vor ihnen auf dem Tisch ist im Frühling 2015 gestorben und damit so wenig Patientin, wie die beiden jungen Männer Ärzte sind. Zahnmedizin, drittes Semester, Anatomiekurs. Mehrmals pro Woche stehen Markovic und Zoske im 14 Grad kühlen Präpariersaal der Charité, unweit des Bettenturms in Mitte. Vor vier Monaten haben sie den ersten Schnitt gesetzt. „Anfangs war ich zaghaft“, sagt Dario Markovic. Aber kneifen gilt nicht.

Im Physikum, der ersten großen Prüfung im Medizinstudium, wird anhand einer Leiche auch die Anatomie abgefragt. Um zu bestehen, müssen die Studierenden Hautschichten säuberlich voneinander trennen. Dann sind die Blutgefäße dran, die Nerven, das Bindegewebe, Muskeln, die Organe im Oberkörper, schließlich der Kopf. „Es ist gewöhnungsbedürftig, aber schwierig ist es nicht“, sagt Jan Zoske. Eine wesentlich größere Herausforderung ist der Lernstoff. Durch was wird die fossa pterygopalatina begrenzt? Wie verläuft die Pyramidenbahn?

Die beiden Anfang 20-Jährigen studieren die ältere Dame im „Präp-Kurs“ genau. Wer sie war, wissen sie aber nicht. Der Persönlichkeitsschutz gehört zum Prinzip der Körperspende. Das nützt auch den Studierenden, sagt Martina Plaschke. „Wie bei lebenden Patienten ist eine gewisse Distanz gut für die Arbeit.“ Die Anatomin arbeitet seit 37 Jahren am Institut, hunderte Körper hat sie im Laufe der Zeit präpariert. „Jede Leiche ist spannend“, sagt Plaschke und schwärmt von gewaltigen Aneurysmen und einem Magen, der hinter dem Herz lag.

Eine lindgrüne Karte weist sie als Körperspenderin aus

Was werden Martina Plaschke und ihre Studierenden finden, wenn sie eines Tages den Körper von Birgit Fitz öffnen? „Die Frage ist, was sie nicht finden. Bis auf die Niere ist alles angegriffen oder kaputt“, sagt die 54-Jährige, die eigentlich anders heißt. Sie ist eine von knapp 3000 Spendern in der Charité-Kartei und könnte jederzeit in der Anatomie eingeliefert werden. Die Frührentnerin hat Rheuma und das Sjögren-Syndrom, durch das ihr Körper langsam austrocknet. Ständig muss sie etwas trinken, ihre Stimme klingt rau. Hinzu kommt Fibromyalgie, ein rätselhaftes Syndrom, dessen Ursachen kaum erforscht sind. Therapiemöglichkeiten gibt es nicht, die Schmerzen lindert Birgit Fitz mit einem täglichen Tablettencocktail, durch den sie aufschwemmt. Seit 2008 Jahren besitzt sie eine kleine lindgrüne Karte, die sie als Körperspenderin ausweist.

Wenn Fitz stirbt, wird ihr Körper so schnell wie möglich in die Anatomie gebracht. Die Leichen für Fortbildungskurse sind nur tiefgefroren. Für den Einsatz im Studium werden sie haltbarer gemacht: Präparatoren lassen das Blut über den Oberschenkel ab und injizieren einen Formalinmix. Etwa sechs Monate muss sich die Flüssigkeit in den Körperzellen festsetzen, immer wieder wird der Leichnam mit Formalin besprüht. Fertig konserviert kommt der Körper aus dem Keller hoch in eine Kühlbox des Präpariersaals, wo der süßliche Geruch trotz Belüftungssystem gleich in die Nase steigt. Je nach Verwendung wird der Leichnam nach wenigen Wochen oder nach eineinhalb Jahren zur Beisetzung freigegeben.

Warum lässt Birgit Fitz das mit sich, mit ihrem Körper machen? „Vielleicht ist ein Student dabei, den Fibromyalgie dann interessiert, der dazu forschen will und anderen Generationen das Leiden erspart“, sagt sie. Außerdem soll ihr Sohn nach ihrem Tod keine Mühen mit der Bestattung haben. Wie alle anatomischen Institute kümmert sich auch die Charité darum. In Fitz’ Fall wird die Beisetzung anonym sein, niemand soll sich um ihr Grab kümmern müssen.

Ärzte üben neue Behandlungen und OP-Techniken

Martina Plaschke ist für künftige Spender wie Birgit Fitz zuständig. Jedem einzelnen ist sie dankbar. Um die Ausbildung der Studenten und die Fortbildungskurse für Ärzte sicherzustellen, sind jährlich 100 neue Leichen nötig. 2015 gab es nur 86. Gerade die Weiterbildung wird wichtiger, ständig müssen Ärzte neue Behandlungen oder OP-Techniken üben. „Da wird ein Kniegelenk eingesetzt, plastische Chirurgie durchgeführt oder die Wirbelsäule operiert“, sagt Plaschke. Warum die Berliner so spendefaul sind, weiß niemand. Einen Mangel gibt es an den 35 anderen anatomischen Instituten in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Universität Mainz hat im Januar sogar einen „Aufnahmestopp“ verhängt. 200 Anfragen kommen jährlich, nur 80 Leichen werden gebraucht. Der Zustrom in Mainz könnte auch damit zusammenhängen, dass die Uniklinik komplett für die Bestattung aufkommt, obwohl der Anatomiebetrieb mit jährlich 100 000 Euro bereits recht teuer ist.

Wegen der hohen Kosten bitten viele andere Anatomien die Spender mittlerweile zur Kasse, so auch das Berliner Institut, für das die Charité jährlich etwa 150 000 Euro aufbringen muss. Bis 2004 zahlte das deutsche Gesundheitssystem 525 Euro Sterbegeld. Seit dem Wegfall verlangt die Charité von den Spendern zu Lebzeiten zwischen 900 und 1250 Euro Beteiligung an den Bestattungskosten. „Damit verliert die Körperspende auch das Image der Billigentsorgung“, hofft Plaschke. An vielen Instituten verabschieden sich die Studierenden mit einer Gedenkveranstaltung von „ihren“ Leichen. Musik, ein paar Gedanken auf Papier, die letzte Ehre. Und für die angehenden Mediziner eine weitere Lektion: Das Ende ist unausweichlich.

"Ein 20-Jähriger ist fast ein anderes Wesen"

„Die Studierenden könnten durch den Anatomiekurs abstumpfen“, befürchtet Herbert Lippert. Er ist selbst Verfasser anatomischer Lehrbücher und befeuert schon lange Diskussionen um das Studium an Leichen. „Das vermittelte Wissen ist in seiner Fülle längst nicht für jeden Arzt wichtig.“ Weil nur hochbetagt Verstorbene auf den Tischen liegen, bekämen die Studierenden keinen umfassenden Eindruck vom menschlichen Körper. „80-Jährige haben oft Implantate, Organe fehlen, Zähne sowieso. Ein 20-Jähriger ist fast ein anderes Wesen.“ Lippert betont auch, dass Tote generell zu stark von Lebenden abweichen, bei der Lage der Organe etwa oder der Haut. „Den Umgang mit dem Skalpell könnten die Studenten auch an frischer Schweinehaut üben.“ Die Anatomie, so fordert Lippert, müsse den Schwerpunkt auf den lebenden Körper legen und dazu vor allem bildgebende Verfahren wie Röntgen, Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie anwenden.

Die Anatomische Gesellschaft weist die Kritik Lipperts am klassischen Präparierkurs zurück. „Bildgebungsverfahren sind Hilfsmittel in der Anatomie, machen aber nicht alles sichtbar“, sagt der Vorsitzende Süleyman Ergün. So lasse sich das Bauchfell gar nicht darstellen, haptische Erfahrungen blieben auf der Strecke. Auch die hohen Kosten seien kein Argument. „England und die USA hatten die Präparierkurse deshalb schon mal stark reduziert. Sie haben längst zurückgerudert und dann jahrelang händeringend nach Anatomen gesucht.“

Birgit Fitz ist froh, dass die Charité Körperspender annimmt. Für sie ist die Zeit in der Anatomie der Schlusspunkt, den sie selbst setzt. Ein Kapitel nach dem Tod. Was genau dann mit ihrem Körper geschieht, weiß sie nicht. Eine vage Vorstellung reicht ihr. Und was könnte schon so schlimm sein, wenn man ohnehin tot ist? Es ist für sie eine wichtige Sache, betont sie immer wieder und seufzt. „Grün ist die Hoffnung, oder?“ Den Spenderausweis packt sie wieder zurück in ihre Handtasche. Vielleicht braucht sie ihn ja noch eine Weile nicht.

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