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Auf einem Straßenschild ist das Wort Mittelschicht durchgestrichen, darüber wird der Weg zur Armut gewiesen.

© imageBROKER/Carsten Reisinger

Neue Zuversicht in der Mittelschicht: Das Ende der Abstiegsangst

Die Abstiegsangst der Mittelschicht ist ein Mythos: Tatsächlich haben Bezieher mittlerer Einkommen ihre Zuversicht zurückgewonnen, wie eine Langzeitstudie belegt. Ein Gastbeitrag.

Die Angst geht um in Deutschland; es ist die Angst der Mittelschichten vor dem sozialen Abstieg. Seit rund zehn Jahren berichten Medien und Wissenschaft darüber, dass die Mitte der Gesellschaft von Zukunftsängsten geplagt sei, die man sonst nur von den unteren Schichten kannte. Hauptursache ist die wirtschaftliche Globalisierung. Als Reaktion auf zunehmenden weltweiten Wettbewerb und beschleunigte Produktzyklen haben Politik und Unternehmen den Arbeitsmarkt flexibilisiert. Für Arbeitnehmer heißt das: mehr Unsicherheit durch befristete Verträge, unfreiwillige Teilzeitarbeit und erzwungene Selbstständigkeit.

Hinzu kommt, dass junge Arbeitnehmer geringere Einstiegsgehälter hinnehmen und häufiger Job und Arbeitsort wechseln müssen. Wer über 50 ist, hat zunehmend Probleme, bei Arbeitslosigkeit wieder in Beschäftigung zu gelangen.

In Westdeutschland griff die Abstiegsangst seit Mitte der 80er um sich

Entscheidend ist, dass diese Unsicherheiten zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik in der Zone des wenn auch bescheidenen Wohlstands Einzug hielten. Von Inhabern typischer Mittelschichtsberufe wie Bankangestellte, Krankenpflegerinnen oder Erzieher wurde berichtet, dass ihnen die Hoffnung auf eine stabile, langfristig planbare Karriere abhandengekommen sei. Seither ist die Abstiegsangst fester Bestandteil der öffentlichen Debatte. Einigen Beobachtern zufolge führten diese Ängste auch dazu, dass sich Teile der Mittelschichten von den etablierten Parteien abwenden und ihr Heil im neuen Rechtspopulismus von Pegida und AfD suchen.

Allerdings zeigen Langzeitumfragen, dass sich die Abstiegsangst schon viel früher auszubreiten begann. In Westdeutschland begann dies in der Mitte der 1980er Jahre, und in Gesamtdeutschland setzte sich der Trend bruchlos fort. Tatsächlich stieg die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes, der wichtigsten Ursache von Abstiegsangst, in keiner Schicht derart stark an wie im mittleren Segment der Mittelschichten, den beruflich gut ausgebildeten Angestellten in Unternehmen und staatlichen Einrichtungen.

2005 waren noch 64 Prozent unsicher, aktuell nur noch 41 Prozent

Paradoxerweise waren die Ängste der Mitte, kaum dass sie vor zehn Jahren mit ordentlicher Verspätung entdeckt wurden, schon wieder auf dem Rückzug. Dies wurde von einer jüngst an der Universität Leipzig durchgeführten Langzeitstudie belegt. Für die Studie wurden Daten von über 43.000 Arbeitnehmern analysiert, die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin über 30 Jahre hinweg in persönlichen Interviews befragt wurden.

Die Ergebnisse zeigen: Seit 2006 waren es Jahr für Jahr weniger Menschen, die sich Sorgen vor dem sozialen Abstieg machen. Noch 2005 sagten 64 Prozent aus den Mittelschichten, sie blickten unsicher in die Zukunft. 2014, dem Jahr der letzten verfügbaren Daten, waren es nur noch 41 Prozent. Dies sind so wenige wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Interessant ist auch: 2005 fühlten sich in den ostdeutschen Bundesländern mehr als 78 Prozent aus der Mitte verunsichert, 2014 aber nur noch 48 Prozent. Dies bedeutet, dass in den Mittelschichten im Osten die Abstiegsangst auf einem historischen Tief angelangt ist.

Nicht einmal die Wirtschaftskrise 2009 konnte den Trend stoppen

Der Optimismus ist also zurückgekehrt. Er hielt ausgerechnet dort so rasch und heftig Einzug, wo sich die Verunsicherung zuvor am rasantesten ausbreitete: im Herz der Mittelschicht, bei den beruflich qualifizierten Angestellten. Nicht einmal die Wirtschaftskrise 2009 konnte der Trendumkehr zum Optimismus etwas anhaben. Wie konnte das geschehen?

Die Ursachen dieser erstaunlichen Trendwende lassen sich noch nicht zweifelsfrei feststellen. Zumindest zwei sind aber sehr wahrscheinlich. Erstens: Seit zehn Jahren verzeichnet die Bundesrepublik ein stetiges, durch die letzte Krise nur kurz unterbrochenes Wirtschaftswachstum. Seither sank die Arbeitslosenquote von über elf Prozent im Jahr 2005 auf aktuell rund sechs Prozent ab. Weil die zusätzlich geschaffenen Jobs eine gute Ausbildung erfordern, profitieren die Mittelschichten davon mehr als die unteren Schichten der ungelernten Arbeiter und gering qualifizierten Angestellten.

Die Mittelschicht hat gelernt, mit Risiken des Arbeitsmarkts umzugehen

Zweitens scheint das Erschrecken der Arbeitnehmer über die Globalisierung generell vorbei zu sein. Besonders die mittlere Mittelschicht hat gelernt, mit den neuen Risiken des Arbeitsmarkts umzugehen. Sie hat sich damit arrangiert, dass sie von den Arbeitgebern keine dauerhafte Bindung mehr erwarten kann. Wenn es im aktuellen Job nicht rund läuft, sucht man sich eben den nächsten. Karriereplanung erfolgt daher nicht mehr langfristig, sondern „auf Sicht“. Das hat Vorteile für das eigene Sicherheitsempfinden. Wer keine lange Betriebsbindung erwartet, wird auch weniger enttäuscht, wenn die erhoffte Beförderung beim aktuellen Arbeitgeber ausbleibt oder auf den befristeten Vertrag keine Verlängerung folgt.

Dieses eigenwillige Wechselspiel aus Verängstigung und Optimismus ist es, das das mittlere Segment der Mittelschichten kennzeichnet. Sie ist das sensible Zentrum der Gesellschaft. Wie ein Seismograf spürt die mittlere Mitte feinste Veränderungen in der Tektonik des deutschen Arbeitsmarkts auf und reagiert darauf heftiger als alle anderen Schichten. Derzeit zeigt sie zwar keine Erschütterungen an, aber das kann sich wieder ändern.

Dass Pegida und AfD von Abstiegsängsten profitieren, ist ein Fehlschluss

Angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre ist es auch unwahrscheinlich, dass es ausgerechnet die Abstiegsängste gewesen sein sollen, die Pegida und AfD erhebliche Erfolge einbrachten. Dies geht eher auf das Konto diffuser Ängste vor Einwanderern fremder Kulturen und vor Verlust der nationalen Identität, Europaskepsis und einer Denkzettelhaltung gegenüber den etablierten Parteien – alles Haltungen, die auch in den Mittelschichten zu Hause sind. Da die Datenlage für die Forschung hierzu aber noch dünn ist, steht ein solider Nachweis aus. Umso wichtiger ist es, die Befindlichkeit der Mittelschichten dauerhaft im Auge zu behalten.

Der Autor lehrt Soziologie an der Uni Leipzig und ist Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die Studienergebnisse, auf die sich der Text bezieht, sind zunächst exklusiv im Tagesspiegel erschienen. Ein erster Arbeitsbericht zur Studien ist am Montagnachmittag hier veröffentlicht worden.

Holger Lengfeld

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