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Alles sauber? In vielen Dieselmodellen sind Thermofenster eingebaut, die die Abgasregulierung bei niedrigen Temperaturen ausschalten. Das soll den Motor schonen.

© imago/Neundorf/Kirchner-Media/Neundorf

Hürden für Schadensersatzklagen gesenkt: Das bedeutet das neue Urteil des EuGH für Dieselfahrer

Der Europäische Gerichtshof sieht Thermofenster zur Abgasregulierung kritisch und senkt die Hürden für Schadensersatzklagen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum Urteil.

Verbraucheranwälte sprechen von einem „Sensationsurteil“, der Autobauer Mercedes hofft, dass sich die deutschen Gerichte von dem neuen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht beeinflussen lassen. Doch das ist eher unwahrscheinlich. Denn die europäischen Richter haben am Dienstag in ihrer Entscheidung zum Thermofenster (Az: C-100/21) die bisherige Rechtsprechnung des Bundesgerichthofs über den Haufen geworfen.

In mehreren Verfahren gegen Mercedes hatten die höchsten deutschen Richter bisher Schadensersatzansprüche wegen des Thermofensters abgelehnt. Anders als in der Betrugssoftware im VW-Dieselskandal sah der Bundesgerichtshof im Fall der Abgastechnik keine vorsätzliche sittenwidrige Täuschung der Käufer, sondern höchstens Fahrlässigkeit. Das reiche aber nicht für Schadensersatz.

Die europäischen Richter beurteilen das anders. Sie entschieden, dass Autobauer auch dann haften müssen, wenn sie nur fahrlässig ohne Betrugsabsicht gehandelt haben. „Die Entscheidung vereinfacht die Durchsetzung von Abgasskandal-Ansprüchen für betroffene Verbraucher enorm“, sagt Rechtsanwalt Claus Goldenstein, dessen Kanzlei über 50.000 Mandanten in Zusammenhang mit dem Abgasskandal vertritt. Die Deutsche Umwelthilfe rechnet damit, dass von dem neuen Urteil europaweit bis zu zehn Millionen Besitzer von Diesel-Pkw profitieren könnten.

Was ist ein Thermofenster?

Das Thermofenster ist eine Software, die die Abgasreinigung bei Dieseln (Abgasnorm Euro 5, Euro 6b und 6c) bei der Unterschreitung bestimmter Außentemperaturen drosselt oder sogar völlig deaktiviert, nahezu alle Autobauer haben sie standardmäßig eingebaut. Sie argumentieren, dass das für den Schutz des Motors nötig ist. Praktisch heißt das aber, dass die Autos dadurch mehr gesundheitsschädliche Stickoxide ausstoßen, als gesetzlich erlaubt ist.

10 Millionen
Dieselkäufer könnten europaweit von dem Urteil profitieren

In einem früheren Urteil hatte der EuGH bereits festgestellt, dass das Abschalten nur in bestimmten Notsituationen und nur für kurze Zeit zulässig ist, etwa wenn sonst ein plötzlicher Motorschaden den Fahrer gefährden könnte. Ein allgemeiner Schutz vor Verschleiß reiche nicht aus. Und Thermofenster, die schon bei Temperaturen unter 15 Grad aktiviert werden, hielten die Luxemburger Richter in ihrer Entscheidung vom Juli 2022 für unzulässig.

Wie unterscheidet sich das vom VW-Dieselskandal?

VW hatte beim Skandalmotor EA189 über eine Software gesteuert, dass neue Modelle Stickoxid-Grenzwerte nur zur Typgenehmigung eingehalten haben. Die Software hatte erkannt, wann die Autos auf dem Prüfstand standen, und dann die Abgase entsprechend gedrosselt. Der Skandal hatte den Konzern 32 Milliarden Euro an Geldstrafen und Entschädigungen gekostet.

Bei dem Thermofenster geht es um eine Abgasreinigung, die den Motor schützen soll. In der Vergangenheit hatte das Kraftfahrtbundesamt den damit ausgestatteten Modellen die nötige Typgenehmigung, um mit dem Auto fahren zu dürfen, erteilt.

Was sagt Mercedes?

In dem vom EuGH jetzt entschiedenen Fall ging es um einen Mercedes-Diesel. Das Landgericht Ravensburg hatte ihn dem EuGH vorgelegt, weil es Zweifel an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hatte. Ein Mercedes-Sprecher betonte am Dienstag, man müsse abwarten, wie nationale Gerichte das Urteil aus Luxemburg umsetzen.

Der EuGH habe aber klargemacht, dass es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung handeln müsse, was im konkreten Fall streitig sei. „Mercedes-Benz-Fahrzeuge, die im Rahmen eines Rückrufs ein entsprechendes Software-Update erhalten haben, können dauerhaft weiter uneingeschränkt genutzt werden“, sagte ein Sprecher dem Tagesspiegel.

Wie erkenne ich, ob ein Thermofenster unzulässig ist?

Betroffene können das mit Hilfe von Sachverständigengutachten oder Rückrufbescheiden überprüfen. Rückenwind bekommen sie derzeit aber vor allem von Verfahren der Deutschen Umwelthilfe, die gegen 119 Freigabebescheide des Kraftfahrtbundesamtes vorgeht. Einen ersten Erfolg erzielte der Verband mit seiner Klage gegen die Typgenehmigung des Kraftfahrtbundesamts gegen VW vor dem Verwaltungsgericht Schleswig im Februar.

Das ist ein Sensationsurteil.

Claus Goldenstein, Verbraucheranwalt

Wie wird der Bundesgerichtshof reagieren?

Das werden Betroffene schon recht bald erfahren. Am 8. Mai verhandelt der Dieselsenat des BGH. Mit Blick auf die Grundsatzentscheidung aus Luxemburg gibt es einen Stau von Dieselfällen. Allein in Karlsruhe liegen noch über 1900 Fälle, allerdings drehen sich nicht alle um das Thermofenster. Interessant ist auch die Frage, worin ein möglicher Schaden für die Kunden liegt. Mercedes betont, es gäbe keine Wertverluste.

Sind mögliche Ansprüche nicht längst verjährt?

Zivilrechtliche Ansprüche verjähren im Normalfall drei Jahre zum Jahresende nach Bekanntwerden des Mangels. Die Frage ist also, wann man von einem Mangel erfahren hat. Im Normalfall passiert das, wenn ein Auto durch das Kraftfahrtbundesamt zurückgerufen wird, heißt es in der Kanzlei Goldenstein. In vielen Thermofenster-Fällen sei das aber noch gar nicht passiert.

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