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Veronika Grimm gehört dem Sachverständigenrat der Bundesregierung an.

© Imago/Ipon

„Es kommt zu realen Einbußen“: Wirtschaftsweise Grimm warnt die Deutschen vor harten Zeiten

Die Ökonomin wirft der Politik vor, die Wahrheit zu verschweigen. Das Land stehe vor großen Aufgaben. Doch Deutschland drohe wieder zum kranken Mann Europas zu werden.

Die Folgen von Corona, Energiekrise und Klimawandel: Viele Menschen in Deutschland spüren schon jetzt, dass sie weniger im Portemonnaie haben. Und nach Einschätzung der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm müssen sich die Bürgerinnen und Bürger auf noch härtere Zeiten einstellen.

In der gegenwärtigen Stagnationsphase der deutschen Wirtschaft komme es weniger darauf an, „ob wir knapp über oder unter der Nulllinie liegen“, sagte die Ökonomin, die dem Sachverständigenrat der Bundesregierung angehört, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. 

„Fakt ist: In einer Phase mit sehr geringem oder sogar negativem Wachstum müssen sich die Menschen auf Härten einstellen. Es kommt zu realen Einbußen.“ Das sei eine große Herausforderung in einer Transformationsphase, vor allen Dingen politisch.

Es ist fraglos notwendig, das gesetzliche Rentenalter weiter anzuheben.

Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung

Grimm warf der Politik und der Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) mangelnden Mut vor, den Bürgern die Wahrheit zu sagen. „Wichtig ist mir, dass die Politik den Leuten reinen Wein einschenkt und deutlich macht: Der Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität kostet etwas – auch den einzelnen Bürger“, sagte Grimm.

„Fehlender Mut hat schon die Regierungszeit von Angela Merkel geprägt. Man geht immer nur so weit, wie man es dem Wähler verkaufen kann. Das geht mit der Ampel-Regierung so weiter“, sagte sie.

Die Kritik der Wirtschaftsweisen: „Man schielt immer auf die nächste Wahl, bei der man abgestraft werden kann, und traut sich nicht, das Notwendige zu tun. Und jetzt verspricht man in einem Umfang Fördermittel, in dem sich das nicht durchhalten lässt – auf Kosten des Handlungsspielraums zukünftiger Generationen.“ 

Die Ökonomin geißelte dabei auch den von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geplanten Industriestrompreis als Wachstumshindernis. „Mittelfristig hängt die Konjunktur auch davon ab, ob sich die Regierung zu wichtigen und erstmal unangenehmen Strukturreformen durchringt. Der Industriestrompreis jedenfalls ist wenig förderlich für die mittlere Frist.“

Wenn man den Strompreis für die energieintensive Industrie senke, dann steige über den Marktmechanismus der Strompreis für alle anderen, deren Preise nicht gedeckelt seien. „Das betrifft den Mittelstand und viele zukunftsorientierte Unternehmen, die eine Chance für Deutschland darstellen“, so die Wirtschaftsweise. 

Scharf kritisiert die Wirtschaftsweise Veronika Grimm den von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geplanten Industriestrompreis.
Scharf kritisiert die Wirtschaftsweise Veronika Grimm den von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geplanten Industriestrompreis.

© dpa/Bernd Weißbrod

Um den Anstieg bei den Energiepreisen zu dämpfen, rief Grimm dazu auf, das Energieangebot massiv auszuweiten. „Wir müssen schneller werden bei den Erneuerbaren, müssen große Mengen Wasserstoff beschaffen, wir brauchen wasserstofffähige Gaskraftwerke – und mehr Leitungen für Strom und Wasserstoff“, sagte sie.

„Es muss extrem viel in extrem kurzer Zeit passieren. Darauf sollte sich die Regierung konzentrieren, statt übergangsweise für einige den Strompreis zu senken.“ 

Das veränderte Heizungsgesetz beschrieb die Ökonomin als wertlos. „Von dem ordnungsrechtlichen Ansatz war ich von Anfang an nicht begeistert, und jetzt ist es völlig verwässert. Effektiven Klimaschutz erreichen wir damit nicht mehr“, sagte Grimm. „Und wenn man sich die Fördermittel für den Heizungstausch anschaut, kann einem schwindelig werden: 18 Milliarden im Jahr 2024! Woher soll das Geld auf Dauer kommen?“

Grimm fordert eine höhere CO₂-Bepreisung

Sie forderte, die Energiewende bei Wärme und Mobilität über den CO₂-Preis zu steuern. „Wir sollten die CO₂-Bepreisung anschärfen – und die zusätzlichen Einnahmen als Klimageld an die Menschen zurückgeben und so den sozialen Ausgleich organisieren.“ 

In der Debatte um eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters sprach sich Grimm dafür aus, die Lebensarbeitszeit automatisch zu verlängern. „Es ist fraglos notwendig, das gesetzliche Rentenalter weiter anzuheben“, sagte sie. „Man sollte die Regelaltersgrenze für den Renteneintritt an die Lebenserwartung koppeln.“ 

Konkret schlug sie vor: „Die Formel in Zukunft könnte sein: Nimmt die Lebenserwartung um ein Jahr zu, so würden zwei Drittel des zusätzlichen Jahres der Erwerbsarbeit zugeschlagen und ein Drittel dem Ruhestand.“

Ausnahmen müsste es bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen geben. Grimm bekräftigte: „Das gesetzliche Renteneintrittsalter wird bis 2031 auf 67 Jahre erhöht. Dabei kann es aber nicht bleiben.“

Die Ökonomin beklagte auch die zunehmende Frühverrentung. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, müsse die Erwerbsbeteiligung auch bei den Älteren steigen. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen länger arbeiten wollen und auch können, dass also das tatsächliche Rentenalter steigt“, sagte Grimm. „Der Trend zur Frühverrentung darf sich nicht fortsetzen.“

Deutschland habe mehr zu kämpfen als andere Industrieländer, und die wirtschaftliche Erholung dauere etwas länger, stellte die Wirtschaftsweise fest. „Es kommt jetzt darauf an, dass wir die Zeichen der Zeit sehen und die strukturellen Probleme wirklich angehen – statt immer neue Subventionen zu beschließen“, sagte Grimm. „Wenn wir uns weiter durchwursteln und Notpflaster verteilen, kann Deutschland tatsächlich wieder zum ‚kranken Mann Europas‘ werden.“ (lem)

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