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Manuela Bauche erläutert das Projekt „Geschichte der Ihnestraße 22“. Künftig soll eine Ausstellung an die NS-Verbrechen an diesem Ort erinnern.

© Bernd Wannenmacher

Universitätsgeschichte aufarbeiten: Verbrechen im Namen der Wissenschaft

„Rassen“- Lehre und Zwangssterilisation: Auch auf dem heutigen Gelände der Freien Universität war die Forschung vom Nationalsozialismus durchsetzt. Eine Fachkommission der Medizinzeitschrift „The Lancet“ informierte sich kürzlich in Dahlem über den Stand der Aufarbeitung.

Von Dennis Yücel

In der Ihnestraße 22 finden heute Seminare des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität statt. Einst jedoch befand sich dort das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A). Eine Plakette am Eingang erinnert daran, was dort während der Zeit des Nationalsozialismus, und zum Teil auch schon davor, geschah: Die Mediziner Eugen Fischer und Otmar von Verschuer forschten zu Fragen der Vererbung. Mit ihren Thesen stützten sie die menschenverachtende „Rassen“-Lehre des NS-Staates. Sie erstellten Gutachten für Abstammungsurkunden sowie Zwangssterilisationen von Menschen und griffen für ihre Forschung auf die Körper von in Konzentrations- und Vernichtungslagern Ermordeten zurück.

In den Jahren 2014, 2015 und 2016 waren auf dem Gelände um das ehemalige Institut menschliche Gebeine gefunden worden – Opfer kolonialistischer oder nationalsozialistischer Verbrechen, die dort einst begangen wurden. Nach jahrelanger Aufarbeitung durch die Freie Universität wurden die Gebeine im März 2023 auf dem Waldfriedhof in Dahlem bestattet.

Drei Jahre wurde recherchiert

„Wir kennen ihre Gesichter und Namen nicht“, sagt Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität. „Aber wir wissen, dass sie alle Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft wurden – die Freie Universität wird unermüdlich an sie erinnern.“ Ziegler empfängt an einem Novembermorgen eine Fachkommission der renommierten Medizinzeitschrift „The Lancet“ im Otto-Suhr-Institut. Die internationale Delegation – The Lancet Commission on Medicine and the Holocaust – war anlässlich der Veröffentlichung ihres Berichts über medizinische Verbrechen während des Nationalsozialismus nach Berlin gereist.

Nach drei Jahren Recherche legte sie eine umfassende Aufarbeitung der Gräueltaten vor, die im Rahmen medizinischer Forschung an Jüdinnen und Juden, Sintizze, Sinti, Romnja und Roma, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen sowie politischen Häftlingen, Kriegsgefangenen und anderen verfolgten Gruppen begangen wurden. Den Aufenthalt in Berlin nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um sich vor Ort über Hergang und Aufarbeitung der Knochenfunde und die Planungen zur künftigen Gestaltung des Gedenkortes zu informieren.

Eine Gedenktafel am Eingang des Gebäudes in der Ihnestraße 22 erinnert an die Gräueltaten während der NS-Zeit.
Eine Gedenktafel am Eingang des Gebäudes in der Ihnestraße 22 erinnert an die Gräueltaten während der NS-Zeit.

© Bernd Wannenmacher

Auch der US-amerikanische Rabbiner und emeritierte Professor für Gesundheitsrecht Joseph Polak war Teil der Delegation in Dahlem. Er verlor seinen Vater im Holocaust, überlebte als Kleinkind die Konzentrationslager Westerbork und Bergen-Belsen. „Dieses Gebäude ist das Symbol für die wissenschaftlichen Verbrechen der Nationalsozialisten“, sagt er. „Anthropologen lieferten hier die ideologische Grundlage für die Verfolgung und Auslöschung von Millionen Menschen. Mediziner machten hier Experimente, mit den Körpern derjenigen, die in Auschwitz ermordet wurden. Es war Wissenschaft im Dienste des Todes.“

Es begann mit Knochenfunden

Die Kommission wird von Susan Pollock über das Gelände geführt. Die emeritierte Professorin für Archäologie der Freien Universität hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Reinhard Bernbeck Ausgrabungsarbeiten an der Ihnestraße vorgenommen. Sie zeigt auf eine unscheinbare Stelle am Fuß der Universitätsbibliothek, nahe des ehemaligen Institutsgebäudes. „Bauarbeiter wollten hier im Jahr 2014 eine unterirdische Wasserleitung austauschen“, sagt Pollock. „Dann stießen sie auf eine Grube voller Knochen.“ Es waren fragmentierte Knochen, die, wie eine anschließende gerichtsmedizinische Analyse ergab, von mindestens 15 vermutlich bereits vor mehreren Jahrzehnten verstorbenen Menschen aller Altersgruppen stammten.

Gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft und dem Berliner Landesdenkmalamt beschloss die Freie Universität, das Gelände um den Fundort eingehend zu untersuchen. Pollock und Bernbeck stießen bei ihren Ausgrabungen schließlich auf weitere Gruben mit Gebeinen. Rund 16.000 Knochenfragmente wurden sichergestellt. Analysen ergaben, dass es sich um die Überreste von mindestens 54 Menschen handeln könnte. „Doch das ist eine statistische Schätzung“, sagt Susan Pollock. „Es könnten auch unzählige mehr sein.“

Woher die Knochen genau stammen, können die Forschenden nicht sagen. Nach Beratungen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland sowie dem Zentralrat der Sinti und Roma entschied die Arbeitsgruppe, von weiteren Analysen abzusehen. Wie Susan Pollock erklärte, wurden die Knochen nicht nach genetischen Gesichtspunkten untersucht, um die fürchterlichen Experimente, die an diesem Ort geschehen sind, nicht zu reproduzieren.

Geschichte am Leben erhalten 

Einen Moment halten die Mitglieder der „Lancet“-Kommission an der Fundstelle inne. Dann machen sie sich auf ins Innere des ehemaligen Institutsgebäudes, wo sie von Manuela Bauche empfangen werden. Die Historikerin leitet seit 2019 ein Projekt, das an der Freien Universität eingerichtet wurde, um Ausstellungselemente zur Geschichte des KWI-A an dem historischen Ort zu entwickeln und Opferbiografien zu erforschen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden ab dem nächsten Jahr in einer Ausstellung zu sehen sein. „Menschen, die in dieses Haus kommen, werden seine Geschichte künftig nicht übersehen können“, sagt sie. „Wir dokumentieren die Forschungsarbeiten von Eugen Fischer und Otmar von Verschuer, geben aber vor allem auch ihren Opfern ein Gesicht und eine Stimme.“

Für die Mitglieder der „Lancet“-Kommission ist die Aufarbeitung der Geschichte ein wichtiger Meilenstein. Für Diskussion sorgt jedoch die Frage, ob die Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgeinstitution der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft neben der Freien Universität mehr Verantwortung übernehmen müsse.

Rabbiner Joseph Polak warnt, dass das Bewusstsein für den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus weltweit abnehme. „Man merkt es deutlich, dass die Menschen immer weniger wissen“, sagt er, „und auch immer weniger wissen wollen.“ Es brauche Institutionen, die die Geschichte am Leben erhielten, sodass Menschen weiter Zeugenschaft ablegen können, von den Verbrechen, die geschahen. „Ich rufe dazu auf, aus der Ihnestraße 22 ein Museum für die Verbrechen der nationalsozialistischen Forschung zu machen“, sagt er. „Und den Vorplatz in einen Friedhof umzuwidmen.“

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