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Joachim Löw und sein „emotionaler Leader“ Bastian Schweinsteiger lassen ihren Gefühlen nach dem Abpfiff freien Lauf. Foto: Reuters

© AFP

WM 2014: Deutschland feiert: Joachim Löw - der Weltmeistertrainer

Der Bundestrainer Löw hat endlich gezeigt, dass er ein Meistertrainer ist. Er ist angekommen, ganz oben in der Riege der Allergrößten – und auch in den Herzen der Deutschen.

Für das eine Bild, das den Titel fasst, muss man bei Joachim Löw ein Weilchen warten. Auf dem Rasen von Rio ist es nicht zu finden. Ein Bild, das dereinst Franz Beckenbauer in der römischen Nacht bot, als er nach dem letzten Triumph des deutschen Fußballs in stiller Einkehr durch den Mittelkreis spazierte. Bei Joachim Löw hat es ja auch ein Weilchen gedauert, bis er oben angekommen ist, im Trainerolymp. Erst spät, sehr spät, liefert er das Spiel zum großen Sieg.

Irgendwann in dieser Nacht nimmt auch Joachim Löw die Treppe hoch in den Ehrenrang, dort, wo eben seine Mannschaft am goldenen Weltpokal vorbeidefilierte und dabei allerlei Würden- und Funktionsträgern die Hände schüttelte. Als Joachim Löw schließlich vor Angela Merkel steht, gibt es das eine Bild – er ballt seine Hand zur Faust.

Es ist keine Becker-Faust, wuchtig und mit Ausschrei, es ist auch kein Merkel-Fäustchen, die die deutsche Kanzlerin nach Toren formt. Es ist eine Joachim-Löw-Faust – typisch kontrolliert, ausdauernd, badisch. Dazu macht Löw ein Gesicht wie einer, der bei einer Lotterie einen Gutschein für eine Weinverkostung an der Mosel gewonnen hat. Löw eben. Er lächelt ein bisschen nach außen und nach innen. Tanzen, hüpfen, schreien können andere. Vielleicht war dafür auch der Weg zu weit.

Die Deutschen sind ein Fußballvolk

Neulich, als die K.-o.-Spiele bei dieser Weltmeisterschaft noch nicht angefangen hatten, es aber Fußballgroßmächte wie Italien und Spanien schon erwischt hatte, wurde Joachim Löw sehr nachdenklich. Er erzählte, wie sein Kollege Cesare Prandelli Italien auf Vordermann gebracht hätte und dass Italien wieder offensiven Fußball spielen würde. Und dann sagte er, dass das frühe Aus nur schwer zu ertragen sei für ein Fußballvolk wie das der Italiener. Vielleicht dachte Löw in diesen Momenten an sich selbst.

Die Deutschen sind auch ein Fußballvolk, und Löw musste vermuten, dass auch ihm alles andere als eine glorreiche Niederlage im Finale nicht verziehen werden würde. Vielleicht nicht mal die. Nicht nachdem man zuvor Brasilien zerlegt hat. Vor allem aber nicht schon wieder. Er hatte ja gerade wieder am Beispiel des von ihm geschätzten Kollegen gesehen, wie schnell das Unheil über einen Trainer hereinbrechen kann, der eben noch hymnisch besungen worden ist. In der Fußballwelt sei es nun mal so, sinnierte Löw. Das sei der Lauf der Zeit.

Und nun schlägt ihm oben auf der Treppe eine Welle der Sympathie entgegen. So sind die Zeiten eben auch. Merkel umfasst ihn herzlich und tätschelt ihm den Rücken, gut gemacht, lieber Herr Jogi. Wolfgang Niersbach, der deutsche Fußballpräsident, wirft sich ihm hemmungslos um den Hals. Dann kriegt Kapitän Philipp Lahm den Pokal in die Hände gedrückt. Hoch damit! Güldenes Konfetti fällt aus dem Nachthimmel von Rio. Das Maracana brummt. Löw lächelt im hochgekrempelten blauen Hemd.

Löw muss liefern – das war die Schlagzeile

Löw muss liefern – das war die Schlagzeile, die die deutsche Mannschaft nach Brasilien begleitet hat. Liefern im Sinne imperativ gebotener Pflichterfüllung: Alles unterhalb des Titels wurde als nicht mehr akzeptabel eingeschätzt. So lange, wie Deutschland schon in der Warteschleife steckt. Rom liegt 24 Jahre zurück. Deutschland sei einfach mal wieder dran, hieß es in der Heimat. Und nicht nur da. Auch Spieler wie Philipp Lahm, der ergraute Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski, alle jenseits der hundert Länderspiele, fühlten, dass es für sie wohl keine vierte WM mehr geben würde. Und erst der überreife Miroslav Klose – Herr im Himmel, der tingelt mit 36 noch durch die Strafräume der Welt. Bei Klose fließen Tränen nach dem Triumph.

Wenn man sagt, Deutschland ist jetzt mal wieder dran, damit kann ich nichts anfangen“, hat Joachim Löw gleich zu Anfang des Turniers in Brasilien gesagt. Und auch viele Deutsche wussten zwischendurch nicht mehr viel mit ihm als Bundestrainer anzufangen. Und nun – kann Löw mit dem Titel was anfangen und die Deutschen mit ihm?

Der deutsche Fußball hat unter Löw wieder spielen gelernt

Im mythischen Maracana hat Löw den Makel des Unvollendeten abgestreift. Das war es, was ihm vorgehalten wurde. Mit einem wie ihm könne man nur Schönheitspreise gewinnen; wenn es ernst wurde, kam da nichts mehr. Mit ihm als Bundestrainer hat es Deutschland weit gebracht, aber nie weit genug.

Zu der Zeit seines Wirkens gehört auch, dass noch keiner seiner neun Vorgänger auf so viele erstklassige und talentierte Spieler zurückgreifen konnte wie er. Und das ist ein Teil seines Dilemmas. Sie alle spielen bei europäischen Topvereinen wie Bayern München, Borussia Dortmund oder Real Madrid. Sie haben längst erfahren, wie man nicht nur schön spielt, sondern auch Erfolg haben kann. Das muss doch auch im Nationaltrikot möglich sein.

Ja, der deutsche Fußball hat unter Löw wieder spielen gelernt. Die Mannschaft konnte so schön, so leicht spielen, dass es manches Mal aussah, als schwebte sie. An guten Tagen. An weniger guten Tagen, an Tagen, an denen es drauf ankam, verlor sie sich. Niederlage im EM-Finale 2008, Aus im WM-Halbfinale 2010 und im EM-Halbfinale 2012.

Bundestrainer zog sich in Brasilien zurück

Gerade die Niederlage vor zwei Jahren gegen Italien hatte an Löws Ruf gekratzt. Es war eine sehr persönliche Niederlage für ihn. Wie sehr ihm die zugesetzt hat, erzählen die sechs Wochen, die er nach der Nacht von Warschau schwieg. Das Tückische für ihn an der Niederlage war, dass sie die alten Vorbehalte im Volk bestätigte. Löw ist einfach keiner, mit dem man ein Turnier gewinnt.

Und auch die Tage in Brasilien erzählen eine Menge darüber, wie tief getroffen Löw war, vielleicht auch verletzt. Joachim Löw wusste, dass er bei diesem Turnier des Willens, wie er es oft sagte, dass er hier in Brasilien verloren gegangenen Boden zurückgewinnen musste. Dass er mehr ist als ein Trainer des Übergangs von einem Turnier zum nächsten. Dass er mehr ist als ein Trainer zwischen den Turnieren, sozusagen ein Weltmeister der Qualifikation. Vor allem aber wollte er zeigen, dass er ein großer Trainer ist. Einer, der was holt. Einer wie Herberger, Schön und Beckenbauer.

Dafür zog er sich zurück. Nicht mehr 30 Medienstunden in vier Wochen wie beim Turnier vor zwei Jahren, sondern nur noch zwei Auftritte im deutschen Pressezelt nahe dem Campo Bahia. Es gibt Bilder, die ihn beim Spaziergang am Strand zeigen, immer morgens, in Shorts und weißem T-Shirt, mit Sonnenbrille und Ohrstöpseln. Löw selbst hat sich immer für einen Turniertrainer gehalten. Er war in seinem Element und fühlte sich sicher, wenn er täglich das Grün unter seinen Füßen spürte. Es waren Tage, die Löw herbeigesehnt und wohl auch nötig hatte. Wenn er an der Mannschaft wirken konnte, war er immer gut. Auf dem Trainingsplatz. Und wenn sich um ihn herum der Wahnsinn potenziert. Löw würde dann immer ruhiger werden. Zumindest erzählt man sich das.

Löw hat sich immer über das Fachliche definiert

Und natürlich ist der Fußball immer auch ungerecht. Oft liegt es nicht am großen Ganzen, sondern an Nuancen, also ob der Ball vom Pfosten ins Tor flutscht oder ins Feld zurückspringt. Was konnte Rudi Völler dafür, dass Michael Ballack, sein Bester, 2002 für das WM-Finale von Yokohama gesperrt war? Rudi Völler wurde trotzdem für Platz zwei geliebt. „Es gibt nur ein’ Rudi Völler“ war die Melodie jenes Sommers. Selbst das Vorrundenaus zwei Jahre später bei der EM in Portugal hätte ihm nichts anhaben können. Völler ging von selbst. Und auch dafür wurde er irgendwie gemocht.

Bei Löw war das anders. Als Fachmann ging er immer durch. Auch deshalb hat er es mit dem WM-Finale vom Sonntag auf 112 Länderspiele als Bundestrainer gebracht, und damit eins mehr als seine drei Vorgänger Klinsmann, Völler und Ribbeck zusammen. Liebe und Zuneigung kann man kaum verspielen, wie das Beispiel Völler zeigt. Aber fachlichen Respekt. Löw hat sich immer über das Fachliche definiert. Niederlagen in großen Spielen stellen Fachlichkeit infrage. Löw war angefasst.

Der Bundestrainer wird wohl weitermachen

Nun hat Löw zugefasst. Er weiß, dass es ihm hilft. Er weiß, dass sein langes Wirken Wirkung zeigt. Ein spätes Bild zeigt Löw nach dem Finale in der Kabine neben Podolski sitzend. Das Hemd einen Knopf tiefer offen. Ein bisschen geschwitzt, aber immer noch gut in Form. Löw schweigt. Podolski, einer der wenigen, der Löw duzt, legt seinen Arm um ihn und sagt ihm sinngemäß wohl das, was er auch seinem Kumpel Bastian Schweinsteiger später sagt: „Zehn Jahre haben wir warten müssen auf diese Scheiße – jetzt haben wir das Ding.“ Löw nickt nur. Für Podolski hat sich Löw nun „die Krone als Trainer aufgesetzt“.

Ein wenig erinnert Löws Entwicklung an Jupp Heynckes, dem mit dem Triple beim FC Bayern ein grandioses Spätwerk gelungen ist. Und vielleicht war es ja die persönlichste aller Niederlagen, jene von Warschau, die Löw schlucken musste, um ganz nach oben zu kommen. Er wäre nicht der Erste, ob Trainer oder Spieler, der aus der schmerzlichsten Niederlage jene Motivation und jenen Antrieb gezogen hätte, den es für große Siege braucht.

Denn auch der Schwarzwälder ist längst nicht so cool und abgeklärt, wie es oft den Anschein hatte. In Santo André, wo die deutsche Mannschaft direkt am Atlantik ihr Quartier aufgeschlagen hatte, machte Löw einen aufgeräumten, einen konzentrierten Eindruck. Nur dieses Mal kam noch eine ganz neue, ganz andere Seite zum Vorschein. Seine Bereitschaft und Fähigkeit zum Pragmatismus. Dafür musste Löw sich selbst überwinden. Er musste umdenken, ja auch abrücken von Überzeugungen und Idealen, wonach man nur durch schönen Fußball ans Ziel kommt. Und die Wandlung passierte Löw in einer Weise, wie er sie selbst vermutlich nicht für möglich gehalten hat. Denn sie war riskant.

Löw fand seinen Weg durchs Turnier

Entgegen seiner Vorgabe nahm er eben nicht nur fitte und voll belastbare Spieler mit nach Brasilien. Nach der Vorrunde kassierte er sein System mit passiven Innenverteidigern auf den Außenbahnen ein, schließlich zog er Philipp Lahm aus dem Mittelfeld wieder zurück. Löw würde das vermutlich anders begründen, mit einem noch größeren Plan hinter dem großen Plan, dem er kompromisslos folgte. Am Ende gehorchte er schlicht den Erfordernissen, die der Erfolg stellt.

Ganz gleich wie und wodurch; Löw fand letztlich einen Weg durchs Turnier. Einen Weg, auf dem ihm die Mannschaft mit Bereitschaft und Hingabe folgte. Und es war auch ein Weg, den die Menschen in der Heimat mitgingen. Zweifel wichen, weil die Signale stimmten. Die Mannschaft konnte sich steigern, sie wirkte austariert zwischen Abwehrordnung und Angriffswirbel; noch etwas zittrig gegen Algerien und Frankreich, brillant gegen Brasilien. Und ganz am Ende zweckmäßig und robust gegen Argentinien.

Verlängerung! Joachim Löw gibt nach den torlosen 90 Minuten letzte Anweisungen.

© dpa

Noch einmal schaut Löw bei der Weltpresse vorbei. Untermalt von zaghaftem Applaus. Ein Kollege aus dem Sudan will von Löw wissen, wie er diese Beharrlichkeit so viele Jahre aufbringen konnte. Löw nippt an einer Wasserflasche. Er erzählt dies und das und sagt dann, was er seinen Spielern vor dem Finale mit auf den Weg gegeben hat. „Heute müsst ihr so viel geben wie noch nie. Dann werdet ihr auch das bekommen, was ihr noch nicht hattet.“

Der Bundestrainer wird wohl weitermachen

Ein letztes Bild dieser Nacht zeigt Bastian Schweinsteiger. Gezeichnet wie ein Krieger mit seinem Cut unterm Auge. Er hat ein großes Spiel gemacht, vielleicht das beste seines Lebens. Für sich und für Löw. „Lasst ihn hochleben, er hat so viel abbekommen“, sagt Schweinsteiger. „Er hat es wirklich geschafft, die Mannschaft total hinter sich zu bekommen. Er ist vorweggegangen und hat unglaubliche Worte gefunden in den Einzelbesprechungen.“ Er habe es hingekriegt, dass alle Spieler happy sind, auch die, die wenig oder gar nicht gespielt haben. „Jetzt könnt ihr ihn auf den Mond schießen“, sagt Schweinsteiger, meint es aber anders.

Auf dem Rasen von Rio realisiert Löw nur langsam, was geschehen ist. Ein paar Spielerfrauen sind dazugekommen. Löw setzt ihren Kindern Küsse auf die Stirn. Dann läuft er ein kleines Stück allein, die Hände in die engen Hosentaschen gesteckt. Vielleicht denkt er noch einmal an die Zeiten, die über einen hineinbrechen und einen hinfortreißen können. Löw hat die Zeiten auf seine Seite gezogen und nun Rückenwind.

Er wird wohl weitermachen, das deutet er später noch an. Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und einem pochendem Herzen in der Brust. Er sagt: „Dieses Glücksgefühl wird für alle Ewigkeit bleiben.“ Joachim Löw ist angekommen, ganz oben in der Heldenriege großer Trainer. Und ganz bestimmt auch in den Herzen der Deutschen. Mehr konnte er nicht gewinnen.

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