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Blick zurück im Zorn. Claudia Pechstein hat ihren Kampf noch nicht aufgegeben.

© ddp

Die Analyse: Im Zweifel gegen die Angeklagte

Am Dienstag läuft die zweijährige Dopingsperre gegen Eisschnellläuferin Claudia Pechstein ab. Es ist das vorläufige Ende eines Falles, den es so nie hätte geben dürfen

Es gibt noch Eisschnellläufer, die mit Claudia Pechstein trainieren wollen. Zwei von ihnen gleiten an diesem Vormittag in ihrem Windschatten übers Eis im Sportforum Hohenschönhausen. Die Läuferin vor ihr werden sie mit ihren Erfolgen nie einholen, dazu müssten sie schon fünf olympische Goldmedaillen gewinnen. Nach dem Training steht Pechstein mit Telefon kurz an der Bande. Sagen möchte sie sonst nichts. Am Dienstag wird sie sich öffentlich erklären, an dem Tag, an dem die Zweijahressperre abläuft, die der Internationale Eislauf-Verband ISU wegen Dopings verhängt hat. Zwei Jahre, in denen immer mehr Wissenschaftler zur Überzeugung gekommen sind, dass Pechstein Unrecht getan wurde.

Claudia Pechstein. Dieser Name sollte für einen Durchbruch in der Bekämpfung des Dopings stehen. Der erste Fall, in dem ein Sportler ohne positiven Test überführt wird. Dass es eine prominente Athletin trifft – umso besser. Das bedeutet doch, dass die Sportverbände auch ihre Besten nicht schützen. Aber aus dem erhofften Durchbruch ist ein Fall geworden, in dem es nur Verlierer gibt.

An der Schaumstoffbande, die die Läufer nach Stürzen auffangen soll, lehnt Joachim Franke mit Stoppuhr. Eigentlich ist der Trainer, 70 Jahre, im Ruhestand, aber bevor seine beste Athletin Pechstein, 38, ihre Karriere nicht beendet, wird auch er nicht aufhören. Am Samstag wird Pechstein wieder einen Wettkampf bestreiten, in Erfurt. Dort will sie so schnell laufen, dass sie wenige Tage später zu ihrem ersten Weltcup nach der Sperre nach Salt Lake City fliegen darf. „Es geht in Erfurt nicht um eine Topleistung, sie muss sich einfach nur qualifizieren“, sagt Franke.

Nach allem, was passiert ist, ist nicht mal die Qualifikation für einen Weltcup eine Selbstverständlichkeit für Deutschlands erfolgreichste Winterolympionikin. „Ihr Trainingspensum liegt nur bei 50, 60 Prozent, sie trainiert mit Junioren“, sagt Franke und deutet mit einer Kopfbewegung in Richtung der beiden, die Anschluss an Pechstein zu halten versuchen.

Als der Fall Pechstein beginnt, im Februar 2009, befindet sich der Kampf gegen Doping an einem kritischen Punkt. Die Fahnder fühlen sich hilflos. Sie wissen, dass Athleten mit so fein dosierten Mengen dopen, dass sie bei der Kontrolle nicht auffliegen. Doch es bahnt sich eine Lösung an: Der indirekte Nachweis über den Verlauf der Blutwerte. Fehlt nur ein Pilotverfahren. Da fallen der ISU bei der Mehrkampf-WM in Hamar Pechsteins Blutwerte in die Hände. Verdächtig hoch und verdächtig schwankend, und das zum wiederholten Mal.

Mit Pechstein scheint der Verband nicht die Falsche getroffen zu haben. Eine Athletin aus dem Osten Deutschlands. Mit einem Trainer, der schon in der DDR Olympiasiege mit seinen Athleten erreicht hat, als Doping staatlich angeordnet war. Und dann ihre motzige Art. Im so- genannten Zickenkrieg mit ihrer Konkurrentin Anni Friesinger erschien sie ein ums andere Mal als schlechte Verliererin. Wäre einer solchen Athletin nicht auch Doping zuzutrauen?

Nicht viele mögen sie. Wurde ihr das zum Verhängnis?

Schon als die ISU Pechstein von ihren Blutwerten in Kenntnis setzt, bekommt der Fall eine Eigendynamik. Es ist die Dynamik der Vorverurteilung, und Pechstein wird sie mit ihren Beratern und Anwälten nicht mehr aufhalten können, ja sie manchmal sogar beschleunigen. Es beginnt damit, dass ihr die ISU anbietet, über den Dopingverdacht erst einmal zu schweigen, wenn sie sich bei der WM krank meldet. Pechstein lässt sich darauf ein. Menschlich verständlich, denn ein Dopingvorwurf lässt sich, einmal in der Welt, kaum zurückzuholen. Zugleich ist es eine Lüge, und Glaubwürdigkeit die wichtigste Währung, wenn es um das öffentliche Urteil geht.

Die ISU sperrt sie im Juli 2009, der Fall wird öffentlich, es beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Pechsteins Seite fuchtelt dabei ungelenk mit angeblichem Beweismaterial herum, sie legt ihre Verteidigung auf formale Fehler an. Eine plausible Erklärung dafür, wie die Blutwerte zustande gekommen sind, gelingt ihr nicht.

Pechstein klagt beim Internationalen Sportgerichtshof Cas, der Fall wird größer. Auch der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Jacques Rogge, mischt sich ein und bezeichnet das Verfahren kurzerhand als „Lackmustest“. Als ob der Sport sauber werden würde, wenn die Dopingfahnder eine gerichtsfeste Allzweckwaffe in den Händen halten.

Der Cas bestätigt im November 2009 die Zweijahressperre. Pechstein hat in der letzten Instanz des Sportrechts verloren. Das Schiedsgericht hält im Urteil fest, „dass die Möglichkeit einer Blutkrankheit mit Sicherheit ausgeschlossen wurde“. Im Oktober 2010 wird auch eine zivilrechtliche Instanz, das Schweizer Bundesgericht, die Sperre bestätigen, ohne das Verfahren inhaltlich aufzurollen. Die allerletzte Instanz erscheint nur symbolisch. Es ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, vor dem Pechstein klagen will, dass ein Grundrecht verletzt worden sei: im Zweifel für die Angeklagte.

Parallel zum Rechtsweg tobt der Kampf um die öffentliche Meinung. Zwei Strategien stehen sich gegenüber: Eine nahezu vollständige Auskunftsverweigerung der ISU. Und eine inszeniert wirkende Verteidigung von Claudia Pechstein.

Es gibt nicht viele Experten in Deutschland, die sich im Doping gut auskennen. Der Guru ist Werner Franke, Molekularbiologe am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Berendonk hatte er das Dopingsystem der DDR in Pionierarbeit aufgedeckt. Pechstein gedopt oder nicht – Franke will sich nicht festlegen, sagt aber, dass auch Anabolika zu veränderten Blutwerten beitragen können.

Seine Meinung hält sich selbst gegen die von mehreren Hämatologen, die Anabolika bei Pechsteins Blutprofil ausschließen, und zitiert wird Franke auch wegen eines angeblichen Wissensvorsprungs. Er kennt sich schließlich mit den Körpern von Spitzensportlern aus, die Fachmediziner dagegen hätten nur den normalen Patienten vor Augen. Franke weiß um die Abgründe, die sich im Spitzensport auftun, auf welche Ideen Sportler mit ihren Trainern und Ärzte schon gekommen sind, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Erfahrungswerte stehen also gegen Blutwerte. Franke sagt: „Es gibt kaum einen Pflasterstein in Hohenschönhausen, der nicht gedopt ist.“ Und spricht noch vom „Drecksgesocks der Ex-DDR“.

Es sind Aussagen wie diese, die andere Wissenschaftler zweifeln lassen, dass es in diesem Verfahren noch fair zugeht. Wolfgang Jelkmann ist einer von ihnen, Professor am Institut für Physiologie der Universität Lübeck. „Ich möchte mit diesen Anti-Doping-Geschichten nichts mehr zu tun haben“, sagt er inzwischen, „das Verfahren war inakzeptabel“ und die Entscheidung des Cas ein „Fehlurteil“. Die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft hatte ihn als Gutachter benannt. „Wir haben im Patentrecht Juristen, die über besondere naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügen“, sagt er. Das müsste es auch in solchen Fällen geben, um Wahrscheinlichkeiten festzulegen, ob ein Athlet nun manipuliert hat oder nicht.

Doch es gehe auch um Interessen. „Es gibt nicht nur eine Dopingbande, es gibt auch eine Antidopingbande“, sagt Jelkmann und meint damit Sportfunktionäre, Wissenschaftler und auch Journalisten, die „besessen sind“ vom Kampf gegen Doping.

Mediziner sehen eine Anomalie als Ursache der Blutwerte

Jelkmann gehört zu den Medizinern, die im März 2010 im Namen der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie in die Bundespressekonferenz einladen zum Thema „Der Fall Pechstein aus medizinischer Sicht geklärt“. Ihr Befund: Pechstein hat eine Anomalie, die ihre Werte mit hoher Wahrscheinlichkeit erklärt. Eine Störung der Zellwände der roten Blutkörperchen, die sich nicht leistungsmindernd auswirkt und ihre jungen roten Blutkörperchen ansteigen lässt. Jelkmann sagt: „Ich kenne keinen Hämatologen, der daran zweifelt.“ Weil die Materie so komplex sei, sei eine frühere Entlastung Pechsteins kaum möglich gewesen.

Kann man einer Berufssportlerin ein Berufsverbot erteilen, wenn mehrere unabhängige Wissenschaftler größte Zweifel an ihrer Schuld äußern?

Pechstein bleibt gesperrt, Urteil ist Urteil in der Sportgerichtsbarkeit. Auch wenn die Grundlage eine ganz eigene ist. Anfrage bei der Welt-Anti-Doping-Agentur: Wie bewertet sie aus heutiger Sicht den Fall Pechstein? „Der Fall wurde nicht nach den Richtlinien des biologischen Athleten-Passes beurteilt, die die Wada im Dezember 2009 eingeführt hat.“ Hätte es diese Richtlinien schon früher gegeben, wäre Pechstein wahrscheinlich nicht gesperrt worden. Auffällig war schließlich nur ein Parameter.

Bis heute ist auch nicht benannt, mit welcher Substanz sie denn gedopt haben soll. Und wie soll sie beweisen, mit welcher Substanz sie nicht gedopt hat? Die Flutwelle von Sperren durch den indirekten Nachweis hat es jedenfalls bis heute nicht gegeben. Claudia Pechstein ist ein prominenter Einzelfall geblieben.

Auf dem Eis nochmal schnell zu laufen, ist ein Ziel von Pechstein. Das andere, zu belegen, dass alles ein Irrtum war und ein Mittel dabei ist der Antrag bei der ISU auf eine Ausnahmegenehmigung, dass sie auch mit hohen Blutwerten starten darf. Denn dass ihre Werte wieder hoch sein werden, steht für sie nach dem Befund einer Anomalie außer Frage.

Lehnt der Verband den Antrag ab, wird sie wieder vor dem Cas klagen. In der Hoffnung, dass er diesmal ihre Anomalie als Ursache anerkennt. Und wenn die ISU ihr die Ausnahmegenehmigung erteilt, könnte das so wirken: Mit denselben Blutwerten einmal Doperin und einmal nicht. Diesen Widerspruch will sie aufzeigen mit ihren Beratern, Anwälten und ihrem Durchhaltevermögen. „Die letzten Runden auf dem Eis“, hat sie einmal gesagt, „sind immer meine besten.“

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