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Im ukrainischen Lwiw wurde diese Statue schon passend zur Fußball-EM eingekleidet.

© Lucas Vogelsang

Unterwegs mit der Autorennationalmannschaft (5): Die Welt zu Gast bei Fremden

Unser Reporter Lucas Vogelsang, unterwegs mit der Autorennationalmannschaft, macht sich im ukrainischen Lwiw auf die Suche nach dem EM-Gefühl. Und gerät in einen Höllenritt mit DJ Bobo.

Ein ukrainisches Mütterchen, in einer Straße, die ins Zentrum von Lwiw führt. Bisschen Kopfsteinpflaster, bisschen zerbröselnder Asphalt. Sie trägt, was ukrainische Mütterchen so tragen. Senfgelber Rock, der kurz über die Knie reicht, Wollpullover, der kurz über den senfgelben Rock reicht. Die Tracht der Feldarbeiterinnen. Haltung: leicht gebeugt. Mit einem Lappen wischt sie über einen Geldautomaten, eingelassen in eine der schmutzigen Fassaden. Ein ukrainisches Mütterchen, senfgelber Rock, putzt in einer der Straßen von Lwiw die Plastikverkleidung eines Geldautomaten, als gelte es, ein Denkmal zu pflegen.

Viel besser geht es ja eigentlich kaum, für einen Reporter, der immer auf der Suche nach Szenen ist, nach Bildern, die nie nur für sich sprechen, sondern gleich auch immer für das Ganze stehen müssen, stehen sollten. Ein Stillleben als große Metapher. In diesem Fall für das Europameisterschafts-Gefühl in Lwiw, der Gruppenspielstadt, drei Wochen vor Turnierbeginn.

Hier also: das Mütterchen und der Geldautomat. Ganz klares Bild: Eine Stadt macht sich zurecht, legt den Rouge der Gastfreundschaft auf, zieht den Lidstrich nach. Willkommen, Touristen, Mitteleuropäer, Fußballfreunde. Lwiw freut sich, Lwiw ist bereit. Die Straßen vielleicht noch etwas holprig, aber, immerhin, die Geldautomaten sind sauber, so sauber, dass der stilbewusste Mitteleuropäer mit dem abgehobenen Geld direkt von der Konsole koksen könnte.

Stadien und Städte der EM-Gastgeber Polen und Ukraine:

Doch so einfach ist das alles nicht, weil nach dem Mütterchen erst mal nicht viel kommt. So wie auch vor dem Mütterchen nicht viel kam.

Das Stadion von Lwiw steht außerhalb der Stadt, doch es steht dort nicht, als künde es  von einem kommenden Turnier, sondern viel eher wie das Relikt eines vergangenen. Wie die zurück gelassenen Vogelnester in China, oder die stillen Elefanten in Südafrika. Stahlkolosse, die mit der Euphorie kamen, jedoch blieben, nachdem sie längst wieder ausgereist war.

Auch auf den Straßen ist erst mal: Nicht viel. Kein überdimensionales Billboard, koan Neuer, der über die Autobahn hechtet. Keine Wegweiser in die Stadt, auf dem unglaublich hippe lachende Menschen ohne genaues Alter oder genaue Nationalität in die Zukunft lächeln. An den Straßenrändern, in den engen Gassen, verkaufen Marktfrauen in bunten Kopftüchern Selbstgebackenes, Selbstgenähtes, Selbstverständliches. Von Fußball aber keine Spur.

Ich begegne ihm erst auf dem Rynok, dem Marktplatz in der Altstadt Lwiws. Hier und überall sonst im Kern der Stadt, wurden den Statuen, Gottheiten mit Dreizack und Bogen, Krieger aus Sandstein, die gelben Trikots der Ukraine übergestreift. Sie stehen dort, als wollte man so Vergangenheit und Zukunft miteinander versöhnen. Passend dazu auch der Slogan dieses Turniers, Werbersprech, Uefa-Optik, auf einer Säule nahe des Rathauses: „Creating History together“.

Nicht weit davon verkauft ein etwas älterer Herr, Oberlippenbart, offene, Fremdenverkehrsbüro-Mimik, Gebäck an einem kleinen fahrbaren Stand. Er sagt: „Wir wollen der Welt zeigen, dass wir kein Schurkenstaat sind.“ Mehr sagt er nicht. Die Suche nach dem EM-Gefühl ist eben auch ein Lauschangriff auf die Zwischentöne.

 

Gottes Beistand, denke ich. Wir werden ihn noch brauchen

Auf absurde Weise ist es deshalb auch erst die Taxifahrt zum Flughafen, die mich das Fehlen einer greifbaren Vorfreude, das Unaufgeregte, eine Atmosphäre wie eine Entschleunigungskur, so kurz vor Turnierbeginn verstehen lässt.  Sie ist nichts anderes als der Ausdruckstanz der ukrainischen Seele.

Das Taxi ist ein roter Mini-Van, asiatisches Fabrikat. Neben dem Fahrer gibt es Plätze für insgesamt acht Passagiere, wobei einer auf einer umgedrehten Holzkiste sitzen muss, als Polster dient eine zusammen gelegte Pferdedecke. Gurte gibt es keine. Airbags, natürlich, auch nicht. Dafür aber Marienfiguren auf der Ablage, Heiligenbildchen und Rosenkranz am Rückspiegel. Gottes Beistand, denke ich. Wir werden ihn noch brauchen.

In der Windschutzscheibe verläuft ein etwa 80 Zentimeter langer Riss, der mir allerdings erst während der Fahrt auffällt. Da sind wir schon auf der Autobahn, da regnet es längst. Wasser, vom Himmel strömend. Die Scheibenwischer hetzen über das Glas, kommen kaum hinterher, und versagen schließlich ganz.  Der Fahrer, seelenruhig, fährt auf den Standstreifen, steigt aus, biegt das Plastik, schüttelt den Kopf. Steigt wieder ein. Nichts zu machen. Regenwahrscheinlichkeit für die kommenden zehn Minuten: Immer noch bei circa 125 Prozent. Nun gibt es an dieser Stelle eigentlich nur zwei Optionen: Wagen abstellen, kurz telefonieren und auf ein Ersatzfahrzeug warten, oder auf das Ende des Regens. Hier aber gibt es noch eine Dritte: Weiterfahren. Weil die Rücklichter der anderen Fahrzeuge ja immerhin noch schemenhaft zu erkennen sind. Die Welt zu Gast bei Fremden. Mir ist nicht wohl dabei.

Der Fahrer aber hat ganz offensichtlich andere Parameter für Gefahr. Er beginnt nun, abwechselnd mit zwei Handys zu telefonieren, was es unmöglich macht, die Hände am Lenkrad zu lassen. Also: Freihändiger Blindflug. Die Sichtverhältnisse entsprechen jenen im Innern einer Drive-Through-Waschanlage, Station Drei, Hauptspülgang. Und aus dem Radio dröhnt, kein Scherz: It’s A Rainy Day. Von Ice MC. Spätestens wenn das Radio anfängt, dich mit Eurotrash aus den 90ern zu verhöhnen, weißt du, dass das nicht mehr dein Tag werden kann. Der Fahrer lenkt mittlerweile mit den Knien, hat aber immerhin die Warnblinkanlage angeschaltet und das Tempo gedrosselt. Im Radio jetzt, es geht ja tatsächlich immer noch schlimmer, DJ Bobo. Eines weiß ich genau: Das ist definitiv nicht die Musik, zu der man sterben möchte.

So erreichen wir den Flughafen, der Fahrer parkt den Wagen vor dem Terminal und packt die Koffer aus. Zustand: Immer noch seelenruhig. Ich gebe ihm das Geld, verabschiede mich. Dankbarkeit an der Grenze zum Stockholm-Syndrom, aber auch dafür, dass ich doch noch das EM-Gefühl gefunden habe. Die Freude und Erleichterung, es überstanden zu haben.

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