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Gib ihm die Kugel. Niko Kappel übertraf bei drei von fünf Veranstaltungen in dieser Freiluftsaison bereits die alte Weltrekordmarke.

© imago images/Beautiful Sports

Kugelstoßer Niko Kappel auf Rekordjagd: Die Welt in Zentimetern

Dem Kugelstoßer Niko Kappel hat die Corona-Pause nicht geschadet – er wirft seitdem beständig auf Rekord-Niveau.

Von Benjamin Apitius

Es gibt einige Beispiele für Sportler, die in besonders starker Form aus der Coronavirus-Pause gekommen sind. Niko Kappel übertrifft sie wohl alle. Der Kugelstoßer vom Deutschen Behinderten-Sportverband befindet sich seit den ersten Wettkämpfen dieses Sommers beständig auf Weltrekord-Niveau. Erst vergangenes Wochenende übertraf der 25-Jährige ein weiteres Mal die alte Bestmarke, die der Brite Kyron Duke vor rund einem Jahr bei einem Sportfest in Leverkusen aufgestellt hatte.

Der kleinwüchsige Kappel zählt zu den bekanntesten deutschen Para-Sportlern und weist in seinen jungen Jahren bereits eine stattliche Medaillensammlung vor: Gold bei den Paralympics 2016, Gold bei den Weltmeisterschaften 2017, zudem zwei weitere Silbermedaillen bei Welt- und Europameisterschaften. Doch wenn man bei den großen Events auf dem höchsten Treppchen steht, will jeder der Athleten natürlich auch in den Bestenlisten seinen Namen ganz oben wissen.

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Dieser Kampf ist im Behindertensport nach wie vor ein andauerndes Duell: die Weltrekorde sind in beinahe allen Disziplinen vakant und stehen nicht für alle Ewigkeit wie manche Fabelzeiten oder -weiten in der Leichtathletik der Nichtbehinderten. Niko Kappel zum Beispiel verbesserte seine Leistung – gemessen an seinen 13,57 Meter, die 2016 in Rio zu Gold reichten – in den vergangenen vier Jahren um sagenhafte 83 Zentimeter.

Für den Sportler, der für den VfL Sindelfingen startet, geht es seit seinen Knieproblemen in der vorherigen Saison wieder steil bergauf. Nachdem es Ende des vergangenen Jahres bei den Weltmeisterschaften in Dubai zu einem zweiten Platz reichte, konnte Kappel beschwerdefrei in den Winter gehen, in der er seine persönliche Bestleistung in der Halle toppte. Er war voll im Soll, fühlte sich gut. Bei den Paralympics in Tokio wollte er in diesem Sommer seinen Titel verteidigen. Dann kam Corona.

Auch bei Kappel sorgten die neuen Kontaktbestimmungen für Ungewissheit, seine Trainingsgruppe ließ die gemeinsamen Einheiten ruhen, die Sportler zogen sich in die Isolation zurück. Und Kappel wurde erfinderisch. „Es gab da einen Raum bei mir im Keller“, erzählt Kappel, „der funktionierte nach dem Prinzip: Tür auf, Sachen rein, Tür zu.“ Er räumte ihn frei und rief bei dem Fitness-Laden seines Vertrauens an.

Komm schnell, sagte der Verkäufer, die Leute kaufen mir gerade das Lager leer. Kappel setzte sich ins Auto. Vor Ort ging es in regelrechte Verhandlungen mit den anderen Kunden, Stangen, Träger, Gewichte – der gesamte Bestand wurde untereinander aufgeteilt. „Ich fuhr mit 500 Kilo im Auto heim“, erzählt Kappel.

Kappel perfektionierte seine Schwungbewegung

Die nächsten vier Wochen stemmte Kappel für anderthalb Stunden am Tag in seinem Keller Gewichte. Alle paar Tage griff er auch mal zur Hallenkugel und „donnerte“ sie gegen eine Wand. „Es war ein komischer Zustand. Ich hatte schon etwas Angst, dass ich meine gute Form aus den Wochen davor verliere“, sagt Kappel: „Aber ich bin da eigentlich ganz gut durchgekommen.“ Einige wenige Male schlich er sich aus dem Haus, auf den Feldwegen vor seinem Haus drehte er sich anderthalb Mal um die eigene Achse und stiiieeeeeß. Es ging noch.

„Am meisten fehlten mir in dieser Zeit die anderen Kollegen, meine Trainingsgruppe. Ihre Ratschläge, das Anstacheln, das gemeinsame Feixen“, sagt Kappel. „Ich war heilfroh, als das dann endlich wieder ging.“ Zwei Wochen nach dem Trainingsstart der Fußball-Bundesliga – „Das hat uns sehr geholfen!“ – durfte in Baden-Württemberg am Bundesstützpunkt in Stuttgart Mitte Mai auch die inklusive Trainingsgruppe der Leichtathleten wieder zusammentreffen.

Und Kappel merkte schnell, dass er kaum an Form eingebüßt hatte. Die Paralympics waren zwar längst ins nächste Jahr verschoben, die Trainer hielten aber trotzdem an den ursprünglichen Trainingsplänen für diese Saison fest. „Es ging dann richtig an die Technik“, sagt Kappel.

Sie steckten alle die Köpfe zusammen. In der Weltspitze geht es um jeden Zentimeter. Da die Konkurrenz sich ungefähr auf dem gleichen Niveau bewegt, sei es aber gar nicht so einfach, sich da noch entscheidend zu verbessern geschweige denn sich entscheidend abzusetzen. „Am schönsten wäre es natürlich, wenn da einer käme, der gleich einen Meter weiter stößt als der Rest“, lacht Kappel, „dann könnten wir bei dem ganz genau schauen: was macht der anders als wir?“

So aber liegt es an Kappel und seinen Trainern selbst. Training für Training, Stoß für Stoß, versessene Detailarbeit. Mehr Gewicht auf das vordere Bein, schneller drehen, mehr beugen, nicht ganz so viel, den Fuß etwas nach rechts, noch weiter, nicht so weit, die Schulter drehen, mach dies, versuch mal das, zum Verrückt werden – wenn nichts mehr geht. Bei Kappel aber ging noch was.

Zusammen mit seinem Trainer veränderte er den Schwerpunkt bei seinem Drehstoß etwas und perfektionierte die Schwungbewegung, um eine noch größere Geschwindigkeit beim Abwurf zu erlangen. Bei einem Wettbewerb vom Württembergischen Leichtathletik-Verband konnte Kappel dann Ende Juni beweisen, was all die Tüftelei gebracht hatte.

Seine vorigen Rekorde hielten nie länger als vier Wochen

Es hatte sich einiges mit den neuen Hygienestandards verändert. Der übliche Kreidetopf, den sich alle Athleten bis dahin geteilt hatten, war verschwunden, die Kugeln mussten nach dem Stoß selbst geholt werden, auch Zuschauer gab es keine mehr. Nur eines hatte sich nicht geändert: dass man Wettbewerbe für eine offizielle Wertung zwei Wochen im Voraus beim Weltverband anzumelden hatte. Wegen der Unwägbarkeiten durch Corona hatten die Veranstalter das für diesen ersten Wettkampf aber verpasst – zum großen Pech von Niko Kappel.

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Sein weitester Stoß landete an diesem Tag bei 14,40 Meter. Wahnsinn! Noch nie hatte auf der ganzen Welt jemand bei einem Wettkampf weiter geworfen! Nur war halt die Veranstaltung leider kein offizieller Wettkampf. Der Weltrekord von Kappel, der die vorherige Bestmarke von Kyron Duke um 21 Zentimeter übertraf, zählte nicht.

„Vielleicht war das ja auch mein Glück“, sagt Kappel heute. Nach seinen vergangenen beiden Weltrekordweiten in den zurückliegenden Jahren hatte er sich auf dem Sofa zurückgelehnt und gedacht: „Mega! Weltrekord!“ Er freute sich einen Keks – kam an diese Weiten aber nicht wieder ran. „Es ging einfach nicht, ich weiß auch nicht“, sagt Kappel. So hielt keiner seiner Rekorde länger als vier Wochen.

Zumindest das scheint dieses Mal anders zu sein. Anfang Juli übertraf Kappel den Rekord von Duke bereits ein weiteres Mal. Zwar nur noch um elf Zentimeter, aber immerhin war der Wettkampf in Bad Boll dieses Mal offiziell angemeldet. „Sieht jetzt natürlich etwas doof aus, wenn der eigene Weltrekord nicht so weit ist wie die eigene Bestleistung“, schmunzelt Kappel: „Aber das bekommen wir auch noch irgendwann hin.“

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