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Duell der Fußballstile. Ronaldinho versucht die deutsche Abwehrmauer mit Michael Preetz (Zweiter v. links) zu überwinden.

© rtr

USA-Reise 1999: Die Nationalelf, die keine war

1999 flog eine deutsche Verlegenheitsauswahl unter Trainer Erich Ribbeck zum Confed-Cup nach Mexiko, um für die WM 2006 zu werben – die Reise wurde zur Blamage für den deutschen Fußball.

Alles ist schwer an diesem Tag in Guadalajara. Schwer ist die Luft, von der Hitze, der Nässe. Schwer ist der Rasen, vom Regen der Nacht zuvor. Schwerfällig sind die Bewegungen der deutschen Fußballer, als sie sich auf den Platz schleppen. 70.000 Mexikaner füllen das Stadion, doch Heiko Gerber schaut auf die Brasilianer, die Gegner, die sich aufwärmen, Pirouetten auf dem Ball drehen und Flanken hinter dem Standbein schlagen. „Diese Leichtigkeit haben wir nicht“, denkt sich der Nationalspieler. 90 Minuten später wird er furchtbar Recht behalten. 4:0 gewinnen die Brasilianer, die Deutschen versinken fast im Rasen.

Vor der Trainerbank, in der Hitze, steht Erich Ribbeck. Nachdem es entschieden ist, nimmt er sein Sakko vom Haken und geht. Wenn man ihn heute, 14 Jahre später anruft, will er nicht mehr reden über den vielleicht tiefsten Punkt einer damals an Tiefpunkten nicht gerade armen Zeit. Ribbeck sagt dann aber noch: „Grüßen Sie die Spieler von damals – und sagen Sie ihnen: Es tut mir leid.“

Erich Ribbeck war mit einer Mannschaft zum Confederations Cup nach Mexiko aufgebrochen, die aus der Not geboren war. Zwischen zwei Spielzeiten hatten viele Stammspieler abgesagt. Es war ein bisschen wie jetzt, da wieder eine Nationalmannschaft aus Namenlosen nach Amerika aufgebrochen ist, aber eben nur ein bisschen. Denn was 1999 offenkundig wurde, dass der Fußball, wie er in Deutschland gespielt und kultiviert wurde, keine Zukunft hatte, ist heute korrigiert. Bundestrainer Joachim Löw nominiert Talente, die Ecuador mühelos 4:2 schlagen und denen die USA am Sonntag keine größeren Probleme bereiten dürften.

Dafür war auch die bittere Erkenntnis nötig, die Heiko Gerber überkam. Dem dreimaligen Weltmeister Deutschland, der sich so viel einbildete auf seine Tugenden, gingen damals die Kraft und die Talente aus. Der persönliche Höhepunkt, das Nationaltrikot zu tragen, war für diese Spieler nur möglich durch einen Tiefpunkt des deutschen Fußballs.Was taten die Spieler, an deren Namen sich kaum noch jemand erinnert? Die Klasse von 99, die, die einmal Nationalspieler waren und doch irgendwie nie?

Die Umstände waren unglücklich. Die Deutschen wollten in Mexiko für ihre WM-Bewerbung 2006 werben. Zwölf Spieler sagten ab, nur drei Akteure pro Bundesligaverein durfte Ribbeck nominieren. Zweitligaspieler, Absteiger, und die waren mitten in der Saisonvorbereitung nicht einmal fit. Das Resultat: 0:4 gegen erstklassige Brasilianer, 0:2 gegen zweitklassige US-Amerikaner, 2:0 gegen drittklassige Neuseeländer. Nach der Vorrunde waren die Deutschen draußen.

„Es tut mir leid“ – Ribbeck ist ein Gentleman geblieben. Als die Nationalspieler von einst, Heiko Gerber, Ronald Maul, Paulo Rink und Michael Preetz, von dem Gruß ihres Trainers hören, muss jeder von ihnen lachen. Irgendwie edel, dieser Zug an ihm, es persönlich zu nehmen, wo es am Ganzen lag. „Ribbeck hat mich und Heiko Gerber anfangs öfter verwechselt“, sagt Maul allerdings auch. Da bist du endlich dabei, und nicht mal der eigene Trainer kennt deinen Namen. Und doch liegt darin der Schlüssel zu dieser Geschichte. Es kann ein Fluch sein, wenn sich Träume verwirklichen.

Ronald Mauls Traum war es, in der Nationalmannschaft zu spielen. Heute weiß er, dass er gar nicht dazu gehörte.

Wie bei Ronald Maul, dem Zweitligaspieler von Arminia Bielefeld. Dessen Traum es war, in der Nationalmannschaft zu spielen, neben seinem Idol Lothar Matthäus, gegen Brasilien. Heute weiß er, dass er gar nicht dazu gehörte. Deshalb dieser Satz: „Ich fühle mich nicht als Nationalspieler.“ Er sagt ihn immer wieder. Maul sitzt an einem Konferenztisch in einem Büro in Melle in Osnabrück und sagt: „Unter normalen Umständen wäre ich gar nicht mitgefahren, ich kann das realistisch einschätzen.“

Trotzdem, zunächst war es das Größte. „Ich war so aufgeregt, wusste gar nicht was ich da alles einpacken muss“, sagt er. Wenn das Erhoffte Wirklichkeit wird, dann ist das manchmal einschüchternd. Beinahe zaghaft läuft der kleine Mittelfeldspieler Maul auf den Rasen von Guadalajara, als er in der 74. Minute auf das Feld darf, sein Ohrring funkelt. Alex, der Brasilianer, erzielt zwei Tore, und Maul kommt nie mit. Danach hängt er im Tornetz wie in der Falle.

Heute arbeitet Ronald Maul als Berater für eine Firma, die Granulat für Kunstrasen herstellt. Maul öffnet eine Art Fotoalbum, doch es sind keine Bilder von damals darin, sondern Rasenstücke. Er streichelt die Plastikhalme, während er die Vorzüge für den Gartengebrauch preist. Auf dem Tisch steht Kunstrasen im Glaskasten, er greift hinein und lässt die Kunststoffkörner durch seine Hand rieseln. Es könnten Erinnerungen sein, wenn der Mann sich nicht ziemlich weit entfernt hätte von dem Jungen, der mal Nationalspieler war. Der Ohrring ist weg, Maul ist jetzt 40 und Verkäufer in Streifenhemd und Jeans. Sein Geld verdient der Granulat-Lobbyist bei Fußballvereinen. „Da kenne ich noch 80 Prozent als frühere Mit- oder Gegenspieler.“ Und wer ihn nicht kennt? „Dem stelle ich mich nicht groß als der Nationalspieler vor.“

Die Trikots von damals verstauben auf seinem Dachboden. Und auch sonst hat er ein pragmatisches Verhältnis zu dem Moment in seiner Karriere, der alles andere hätte überstrahlen sollen. „Man muss das realistisch einschätzen“, ist sein Lieblingssatz, als ob er sich entschuldigen müsste, dass er geschafft hat, was die wenigstens erreichen. Dann lacht Maul oft, nur die kleinen Augen wirken manchmal traurig.

Michael Preetz: "Ich war einer der wenigen, die die Chance genutzt haben"

Stars beim Straucheln. Lothar Matthäus geht im Zweikampf mit dem US-Amerikaner Ben Olsen zu Boden.

© dpa

Es war eine andere Zeit, ein anderer Fußball. Wenn die Nationalspieler in Guadalajara damals den Ball annehmen können, rudern sie oft hilflos mit den Armen, passen quer oder zurück oder schlagen den Ball ungestüm nach vorne, wo er im Aus landet. Dass sich Lothar Matthäus mit 38 Jahren noch am leichtesten über den Platz bewegt, sagt alles über die Schwere dieser Mannschaft. „Der dreimalige Weltmeister auf WM-Werbetour – ein Witz!“, sagt Fernsehkommentator Béla Réthy damals. „Fehlende Vorbereitung hin oder her, ein Nationalspieler muss doch einen Pass über drei Meter zum Nebenmann kriegen.“ Sie konnten es nicht.

Einige haben dennoch ihren Stolz behalten. Michael Preetz steht im dunklen Berliner Olympiastadion. Ein Grillfest geht zu Ende bei Hertha BSC, dem Verein, bei dem Preetz Manager ist und Bundesliga-Torschützenkönig war. Damals, als der Stürmer Ribbecks Einladung nach Mexiko erhielt. „Am Flughafen hatte ich Probleme, alle Gesichter zu erkennen“, sagt Preetz. Er aber sieht sich als Nationalspieler. Er erzielte ein Tor gegen Neuseeland, immerhin. „Ich war einer der wenigen, die die Chance genutzt haben“, sagt Preetz über die Reise. Er spielte danach wieder für Deutschland, ein Mal noch. Preetz erzählt, wie er nach dem 0:4 wütend in der Kabine gesessen habe, während einige Spieler mit den Brasilianern wie in Trance ihre Trikots tauschten, als Andenken an einen Traum, der zum Albtraum wurde. Dabei zeigen die Bilder, wie Preetz auf dem Platz stehend aus einer Wasserflasche trinkt und wütend ausspuckt. Fußballergedächtnis, so viele Spiele, die schlechten werden als erste vergessen.

Waren wir nicht doch im Halbfinale? Heiko Gerber ist sich nicht mehr sicher. Auch er war mit großen Hoffnungen nach Mexiko gereist. „Als mir mein Vereinstrainer im Bus das Handy weiterreichte und sagte, es wäre der Bundestrainer, musste ich zweimal fragen, ob er mich meint“, sagt Gerber. Gerade war er mit dem 1. FC Nürnberg aus der Bundesliga abgestiegen. In Guadalajara lief es für ihn nicht besser. Er weiß noch, was der „Kicker“ damals geschrieben hat: „Seine Auswechslung gegen die USA war eine Erlösung, für ihn und für uns.“ Pause. „Das war bitter zu lesen.“ Nicht nur bei ihm, im Deutschland der Jahrtausendwende ging damals etwas zu Ende: Der Glaube, dass im Fußball 22 Männer 90 Minuten einem Ball nachjagen und am Ende immer die Deutschen gewinnen.

Seismograph der deutschen Fußballseele war damals schon Franz Beckenbauer. Als Weltmeistertrainer 1990 hatte er noch von der auf Jahre hinaus unschlagbaren Nationalmannschaft schwadroniert. Nach 1999 klagte er: „Wo sind denn die Talente?“ Doch erst nach dem frühen Ausscheiden der Ribbeck-Elf bei der Europameisterschaft 2000 wurde gehandelt: Elitestützpunkte, Schulkooperationen und Nachwuchsinternate für Bundesliga-Klubs, genormt vom Kunstrasenplatz bis zum Kopfballpendel. Die Geburtsstunde der Generation Götze, Özil und Reus.

Die Tricks, die Gerber in Guadalajara bei den Brasilianern bewunderte, sieht er heute jeden Tag, bei seinen Jugendspielern. Gerber ist Nachwuchstrainer beim VfB Stuttgart, in einer der besten dieser neuen Akademien. „Der deutsche Fußball hat sich enorm entwickelt seit damals“, sagt er. „Aber wir waren ordentliche Kerle, die mit ihren Mitteln, wie man damals eben Fußball gespielt hat, Gas gegeben haben.“ Dass fehle ihm heute bei seinen Jungs, „auch mal zu beißen, über den Schmerzpunkt zu gehen“.

Heiko Gerber gehört zu denen, die von den Akademie-Fußballern überholt worden sind. Er, der erst eine Berufslehre absolviert hatte und sich über untere Ligen nach oben spielte, wurde beim VfB Stuttgart am Ende von einem jüngeren Konkurrenten namens Philipp Lahm überholt. Gerber ist mittlerweile 40 und trauert den verlorenen Tagen von Guadalajara nicht nach. „Meine Freunde ziehen mich damit auf, ich kann heute darüber lachen“, sagt er.

So hat jeder aus der Klasse von 99 eine andere Traumdeutung. Preetz sieht sich als Gewinner, Maul als Realisten, Gerber als Humoristen und Paulo Rink, der Brasilianer mit dem deutschen Pass, sagt immerhin: „Ich bin stolz, einmal das deutsche Trikot getragen zu haben.“ Doch heute ist Rink Politiker, Stadtrat in Curitiba, da muss er vorsichtig sein. „Die Brasilianer respektieren meine Vergangenheit, aber sie lieben ihr eigenes Team.“ Und so verliert sich die Spur einer Nationalmannschaft, die eigentlich nie eine war. Deren Höhepunkt der Tiefpunkt vom Ganzen war. Und die nie davon profitierte, dass sich nach ihr alles änderte.

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