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Günter M. Ziegler, Professor und Präsident der Freien Universität Berlin

© dpa/Jörg Carstensen

Präsidentenkolumne: Wissen wir genug?

Der Präsident der Freien Universität Berlin über die Aufgaben der Hochschule.

Die vergangenen Wochen haben uns herausgefordert. Die Auseinandersetzungen, bei denen sich auf dem Campus der Freien Universität unterschiedliche Gruppen politisch, teilweise unversöhnlich, gegenüberstanden, der tätliche Angriff eines Studenten der Freien Universität auf einen jüdischen Kommilitonen in Berlin-Mitte, den wir mit aller Entschiedenheit verurteilen. Wir wünschen dem Opfer weiter gute Besserung.

Die Freie Universität hat ihre rechtlichen Möglichkeiten genutzt und ein zunächst dreimonatiges Hausverbot für den Tatverdächtigen ausgesprochen, zum Schutz ihrer Mitglieder, die auf dem Campus studieren, lehren, forschen und arbeiten. Dies alles sind Folgen des Terrorangriffs auf die israelische Bevölkerung und die israelische Gegenreaktion in den palästinensischen Gebieten, die wir auf dem Campus unserer Universität spüren.

Diese Grenzerfahrungen der vergangenen Wochen und Monate führen zur Kernaufgabe von Universitäten: Ausbildung zum demokratischen respektvollen Dialog, Streit um das beste Argument auf der Grundlage von Forschung, Bildung aufgeklärter Mündigkeit, Teilhabe an der Gesellschaft, Wissensvermittlung.

Wissen wir genug? Wissen wir genug über die großen Themen, die die Welt verändern? Über den Klimawandel? Über Quantenphysik? Über Geschichte? Nein. Aber: „Wir müssen wissen, wir werden wissen!“ Als Mathematiker verbinde ich das mit David Hilbert, die Forderung steht auf seinem Grabstein. Wir müssen wissen, um uns den Herausforderungen stellen zu können. Wir müssen lernen, alle müssen lernen. Dem Hass mit Wissen begegnen, der Hetze mit Aufklärung!

Wer weiß „genug“ über die Geschichte des Nahostkonflikts, Israels und des Judentums? Wer weiß „genug“ über Antisemitismus? Diese Fragen können nur rhetorisch sein. Unsere Antwort kann nur lauten: Wir müssen mehr wissen. Und auf dieser Grundlage noch mehr tun. Das ist die Aufgabe und die Verantwortung der Universität.

Die besondere Verpflichtung der Freien Universität ergibt sich aus ihrer Geschichte, dem Wirken von jüdischen Intellektuellen schon in ihrer Gründungszeit, aus ihren Beziehungen mit Israel, die bis in die Anfangsjahre unserer Universität zurückreichen, aus der engen Verbindung zur Hebrew University in Jerusalem.

An der Freien Universität laufen derzeit Aktionswochen gegen Antisemitismus, auf Initiative von Lehrenden aus verschiedenen Fachbereichen. An vielen Instituten unserer Universität wird die geografische Region Naher Osten wissenschaftlich in den Blick genommen, im fächerübergreifenden Masterstudiengang Interdisciplinary Studies of the Middle East sitzen Studierende aus mehr als 30 Ländern zusammen in Seminaren. Um zu lernen, zu verstehen, zu streiten. Auf diesem Weg gehen wir weiter. Gemeinsam. Wir müssen wissen. Wir werden wissen.

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