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Janine Kreß, Guido Lambrecht und Anabel Möbius bringen den Schrecken sehr nah.

© Andreas Klaer

Potsdamer Mini-Festival „Jüdische Ossis“: Der Schrecken hinter den Nachrichten

Mit einer eindrücklichen szenischen Lesung endete das Festival „Jüdische Ossis“. Der Schrecken des Überfalls auf Israel darin: ganz nah.

Was sie gemacht hat, fragt sie sich. Ein Samstag war es, das weiß sie genau, viel mehr nicht. Gab es Pancakes zum Frühstück? Kam die Nachricht über das Mobiltelefon? Die Protagonistin in Lena Goreliks Text „Bildschirmschoner“ erlebt den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 über den Bildschirm – Plakate, zerbombte Häuser, Politiker, die in Kameras sprechen, schreiende, rennende Menschen – und ist doch unmittelbar betroffen. Aus der Diaspora versucht sie zu verstehen und gegen ihre Sprachlosigkeit anzuschreiben.

Die Abschlussveranstaltung von „Jüdische Ossis“ holte am Sonntag den Schrecken hinter den Nachrichtenbildern in Form einer szenischen Lesung in die Reithalle des Potsdamer Hans Otto Theaters (HOT). Veranstaltet vom Institut für Neue Plastik rückte die zweite Festivalausgabe Krisen der Gegenwart – den Angriff der Hamas auf Israel, die bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg mit ihrer drohenden AfD-Mehrheit und den fortdauernden Krieg gegen die Ukraine – in Lesungen, Gesprächen und Musik in den Blick.

Die drei am Sonntag gelesenen Texte sind Teil des Projekts „Schreiben über ‘Die Situation’“ des Instituts für Neue Soziale Plastik. Israelische und diasporische Dramatiker und Schriftsteller schreiben dafür von Oktober 2023 bis Oktober 2024 Texte über ihre neue Realität, die deutschlandweit alle zwei Monate im Rahmen von Lesungen vorgetragen werden. Die große Frage vieler Theater nach dem Überfall: Was kann man jetzt tun? Das Projekt war die Antwort der Initiatorin Stella Leder, „Die neue Situation braucht neue Texte“.

Janine Kreß
Janine Kreß

© Andreas Klaer

Mit voller Wucht

Janine Kreß, Guido Lambrecht und Anabel Möbius, die Laura Maria Hänsel ersetzt, alle Schauspielerinnen und Schauspieler am HOT, erwecken die gedruckten Buchstaben auf beeindruckende Art und Weise zum Leben. In dem reduzierten Bühnenbild vor Projektionen israelischer Kunst treffen die Texte mit voller Wucht. Sie schaffen es, das, was Nachrichten und wissenschaftliche Einordnungen oft in die Ferne rücken, wieder sehr nah heranzuholen. Das, was da zu hören ist, ist weder medial vermittelt, noch eingeordnet: Es ist zutiefst persönlich.

Vielleicht ist die Zäsur, dass einfach etwas zerreißt.

Journalistin und Schriftstellerin Lena Gorelik

So persönlich die Erfahrung, so individuell auch der Umgang mit der Situation. In Hadar Galrons „Also wie möchtest du sterben“ gerät ein Ehepaar in Streit darüber: Die Frau, halb wahnsinnig vor Angst, hat bereits sämtliche Vorkehrungen zum Schutz ihrer Familie getroffen – bis hin zu dem Plan, sich und die Kinder mit einer Zyanidkapsel zu töten, sollte es zu einem erneuten Überfall kommen. Ihr Mann möchte soviel Normalität wie möglich erhalten, „Du machst mir mehr Angst als die Hamas!“, schleudert er ihr irgendwann entgegen.

Zoya Cherkassky-Nnadis „Kidnapped Women“ – eine der Projektionen während der Lesung.
Zoya Cherkassky-Nnadis „Kidnapped Women“ – eine der Projektionen während der Lesung.

© Zoya Cherkassky Nnad

Das Thema wiegt schwer, der israelische Dramaturg Avishai Milstein reagiert in „Dualidarität“ mit Humor. Milsteins Alter Ego führt in einem Schutzraum in Tel Aviv ein Ferngespräch: Eine deutsche Dramaturgin möchte sein Stück über Gaza in einer szenischen Lesung zeigen. Immer wieder stören Detonationen das Telefonat; das Gespräch über „den schönen Abend“, den die Dramaturgin plant, wird immer absurder. Nicht nur ein Rabbiner soll für das Zeremoniell anwesend sein – selbstverständlich auch ein Imam! Mit viel Sarkasmus zielt Milstein auf Political Correctness, Täter-Opfer-Umkehr und die westliche Welt, die sich auch nach diesem Einschnitt in die jüdische Geschichte mit der Solidarität gegenüber Israel schwertut.

Wie soll man mit damit umgehen? Wo finden Banalitäten ihren Platz? Vielleicht, überlegt die Protagonistin in Lena Goreliks Text nach einer Weile, „ist die Zäsur, dass einfach etwas zerreißt“. 

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