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Politisch motivierter Gerichtsprozess gegen den kommunistischen Autor Erich Weinert im Jahr 1931.

© Leo Rosenthal

Auf dem rechten Auge blind: Wie Potsdams Justiz nach 1919 versagte

Mit einer beeindruckenden Sonderausstellung widmet sich die Gedenkstätte Lindenstraße erstmals der politischen Justiz in Potsdam zwischen 1919 und 1933.

Im Herzen dieser scheinbar so überschaubaren wie inhaltlich wuchtigen Ausstellung steht die, die hier versagt hat: Im ersten Stock der Gedenkstätte Lindenstraße sind auf einem transparenten Aufsteller in der Raummitte die Umrisse von Justitia zu erkennen, Göttin der Gerechtigkeit. Die Augen verbunden, in der einen Hand ein Schwert, in der anderen eine Waage. Eine der Waagschalen wiegt deutlich schwerer. Die rechte.

 Es ist auch heute immer wieder zu hören, dass das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit nicht besonders groß ist. Wir wollen zeigen, dass sie ein sehr hohes Gut ist.

Kurator Johannes Leicht über die neue Ausstellung

„Auf dem rechten Auge blind“ ist die Schau übertitelt, die erstmals am Haus das versagende Justizsystem in der Zeit zwischen 1919 und 1933 in den Blick nimmt. Hintergrund sind zwei Jubiläen: 100 Jahre Schicksalsjahr 1923 mit Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Hitler-Putsch. Und 90 Jahre „Tag von Potsdam“. Für Direktorin Maria Schultz zwei Gründe, um sich „das Zeitalter der Extreme“ vorzunehmen. Einen dritten nennt Kurator Johannes Leicht: „Es ist auch heute immer wieder zu hören, dass das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit nicht besonders groß ist. Wir wollen zeigen, dass sie ein sehr hohes Gut ist.“

Kurator Johannes Leicht
Kurator Johannes Leicht

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Die Kernthese der Schau lässt sich am besten an einer Klapptafel unweit der Justitia ablesen. Dort ist die Anzahl politisch motivierter Morde zwischen 1919 und 1921 aufgelistet: von linken Attentätern sind 19 Morde dokumentiert. Von rechten sind es 345. Die Ausstellungsmacher:innen haben daran ein Ratespiel geknüpft: Schätze, wie hoch die Summe der Strafen insgesamt ausfiel! Wer die Tafel aufklappt, liest: Gegen linke Attentäter:innen gab es acht Todesurteile und insgesamt 211 Jahre Haft. Und gegen rechte? Weniger als 32 Jahre Haft. Kein Todesurteil.

Zahlen wie diese sprechen für sich. Die Ausstellung macht über konkrete Geschichten und Einzelbiografien greifbar, was das bedeutete. Und hier führt die Spur mehr als einmal nach Potsdam. So befanden sich in der Lindenstraße 54/55, dem Ort der heutigen Gedenkstätte, zur Zeit der Weimarer Republik, die Strafkammer des Amtsgerichts und das Landgerichtsgefängnis. Justitia war hier zu Hause. Die Gedenkstätte betreibt mit der Ausstellung auch Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit.

Im Ungleichgewicht: die Göttin der Gerechtigkeit in der Ausstellung.
Im Ungleichgewicht: die Göttin der Gerechtigkeit in der Ausstellung.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Die Verfassung war neu, die Verwaltung blieb

Und auch Potsdamer und Babelsberger Geschichte wird lebendig. Ein Beispiel von vielen: Am 12. November 1931 wird in Nowawes der 17-jährige Herbert Ritter erschossen. Herbert Ritter ist Mitglied einer Nachwuchsorganisation der KPD. Der Täter, Günther Güstrau, sympathisiert mit der NSDAP, etwas später wird er Mitglied werden. Güstrau erklärt vor Gericht, er habe in Notwehr gehandelt. Er wird nicht wegen Totschlags, sondern nur wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt. Das Urteil des Schöffengerichts Potsdam: sechs Monate Haft. Am Ende ist Güstrau sofort frei.

Johannes Leicht erklärt tendenziöse Urteilssprechung wie diese mit einem seit Kaiserzeiten ungebrochen nationalkonservativen Geist, der in Potsdam auch nach 1919 herrschte. Die Verfassung war zwar neu, aber der Verwaltungsapparat der gleiche geblieben. Oft waren die Beamten Gegner der parlamentarischen Demokratie. „Und die Weimarer Republik hatte gar nicht wirklich genug Zeit, um eine neue Generation von Richtern auszubilden“, sagt Leicht. Das dauert rund zehn Jahre. Leisten können sich das nur die Wohlhabenden. Rechtssprechung in der Weimarer Republik ist auch eine Frage der Klasse.

Das Amtsgericht, heute Standort der Gedenkstätte Lindenstraße, im Jahr 1937.
Das Amtsgericht, heute Standort der Gedenkstätte Lindenstraße, im Jahr 1937.

© Potsdam Museum

In Potsdam kommt dazu, dass viele in der ehemaligen Residenzstadt dem Kaiser nachtrauern. Der konservative Geist der Stadt zeigt sich in den Massen, die dem Trauerzug von Ex-Kaiserin Auguste Viktoria im Jahr 1921 durch Potsdam folgen. Er zeigt sich auch im Geschlechterverhältnis an den Potsdamer Gerichten: Bis 1933 gibt es am Amts- und Landgericht keine einzige Richterin, Staats- oder Rechtsanwältin. Und nach der Reichstagswahl 1933 sorgt Landgerichtsdirektor und künftiges NSDAP-Mitglied Fritz Warmuth dafür, dass am Potsdamer Landgericht das Hakenkreuz flattert. Als eines der ersten Gerichte im Reich.

Dass auch die Lebensläufe von Richtern und Wärter:innen nachgezeichnet werden, ist eine der Stärken dieser Schau: Die Menschen, die damals für das Gesetz standen, werden sichtbar. Eine weitere Stärke sind die Audiostationen, wo man unter anderem Gisela May dabei zuhören kann, wie Brecht 1929 über Potsdam spottete: „So zogen sie durch Potsdam/ Für den Mann am Chemin des Dames / Da kam die grüne Polizei/ Und haute sie zusamm.“

Und auch das zusammengetragene Fotomaterial ist stark. Es gibt Einblicke in einige der berühmten Fälle jener Zeit. Darunter auch jener um Carl von Ossietzky, dem Herausgeber der in Potsdam gedruckten „Weltbühne“. Für einen Artikel über geheime Rüstungsprojekte der Reichswehr wird der Herausgeber 1931 zu anderthalb Jahren Haft verurteilt: ein Tritt ins Genick der Pressefreiheit. 1936 erhält er den Friedensnobelpreis. 1938 stirbt er im KZ. Im Café Heider, das damals noch Rabien heiß, soll er oft gesessen haben.

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