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Christian Zipfel, der künstlerische Leiter des Projektes, führt Zeitzeugin Ruth Winkelmann die VR-Brille vor. Zehntklässler der Voltaire-Gesamtschule waren in das Projekt eingebunden - unter anderem bei der Entwicklung der Fragen und beim Schnitt des Filmmaterials.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Virtuelles Gedächtnis: Zeitzeugenprojekt zum Holocaust in Potsdam gestartet

Per VR-Brille können Besucher am Kutschstall in Potsdam fünf Zeitzeugen zur Zeit des Holocaust „befragen“: Die in Potsdam entstandene Schau „In Echt?“ gastiert auch in sechs weiteren Orten im Land.

Über ihre Geschichte hat sie jahrzehntelang nicht sprechen können. „Weil ich nervlich und seelisch völlig kaputt war“, sagt Ruth Winkelmann. Schrei- und Weinkrämpfe habe sie bekommen, wenn sie sich die Erlebnisse als Kind in Hohen-Neuendorf und in Berlin unter den Nationalsozialisten vor Augen führte. Eine Urlaubsbekanntschaft im Jahr 2002 änderte das. Die Dame habe sie nach dem Davidstern gefragt, den sie an einer Kette um den Hals trug.

Die lockere Urlaubsatmosphäre mag dazu beigetragen haben, dass sie sich der fremden Frau öffnen und erzählen konnte – zum ersten Mal. Davon, wie sie als „Halbjüdin“ die Zerstörung des jüdischen Viertels in Berlin bei den Pogromen 1938 erlebte, wie sie mit 14 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde, wie ihr Vater und die Großeltern in NS-Todeslager verschwanden und wie sie selbst überlebte, untergetaucht in einer Laubenkolonie in Berlin-Wittenau. Die Frau aus dem Urlaub lud Ruth Winkelmann schließlich in die Schule ihrer Tochter ein, damit sie dort vor den Jugendlichen spricht. Seitdem hat die Holocaust-Überlebende, die im September 95 Jahre alt wird, eine Aufgabe: Zeugnis ablegen.

Das tut sie jetzt auch mittels neuester Technik, per Auftritt in einem 3D-Film: Ruth Winkelmann ist eine von fünf Jüdinnen und Juden, deren Geschichten die Gäste der Ausstellung „In Echt? Virtuelle Begegnungen mit NS-Zeitzeug:innen“ erkunden können. Bei der Eröffnung am Dienstag im Kutschstall vor dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) in Potsdam war sie Ehrengast. Und setzte sich auch die klobige VR-Brille auf.

Wie kann Erinnerung weitergegeben werden, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Wie kann man kommenden Generationen den Zivilisationsbruch des Holocausts begreiflich machen, wenn niemand mehr da ist, der aus eigener Erfahrung davon berichten kann? Aber auch: Wie können junge Menschen in ländlichen Räumen mit diesen Themen erreicht werden? Mit dem Projekt wolle man „neue Wege der digitalen Erinnerungskultur“ gehen, sagte HBPG-Leiterin Katja Melzer zum Auftakt.

Fünf Zeitzeugen beantworten jeweils zwei Fragen

Das HBPG arbeitet daran gemeinsam mit der Filmuniversität Babelsberg. Auch Schülerinnen und Schüler der Voltaire-Gesamtschule waren eingebunden – unter anderem bei der Entwicklung der Fragen und beim Schnitt des Filmmaterials. Das Projekt, das bis Samstag noch in Potsdam gastiert, ist danach in sechs weiteren Orten in Brandenburg zu erleben.

Die gesamte Installation mit aufblasbarem Pavillon, Technik und aufblasbaren Info-Stelen kann innerhalb einer Stunde aufgebaut werden.
Die gesamte Installation mit aufblasbarem Pavillon, Technik und aufblasbaren Info-Stelen kann innerhalb einer Stunde aufgebaut werden.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Die Workshops für Schulen seien bereits ausgebucht, sagte Johanna Schüller, Projektleiterin beim HBPG. Die ganze Installation mit einem aufblasbaren Pavillon und der Technik passt in einen Auto-Anhänger und könne innerhalb einer Stunde aufgebaut werden. Es handele sich um ein bundesweit einmaliges Pilotprojekt. Mifinanziert wird es von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Begleitend wird das Projekt evaluiert: Wie kommt die Schau bei den Gästen an? Was funktioniert? Was nicht?

Grundlage der Ausstellung sind Interviews mit Zeitzeugen, die Christian Zipfel, der künstlerische Leiter des Projekts, im volumetrischen Studio in Babelsberg geführt hat. Die Zeitzeugen wurden dabei mit 36 Kameras aus allen Blickwinkeln gleichzeitig aufgenommen. In der Ausstellung kann man Ausschnitte davon per VR-Brille ansehen. Die Steuerung des Systems erfolgt über die Augen. Aus den Interviews wurden je Zeitzeuge die Antworten auf wenige Fragen destilliert: Welche Erinnerungen haben Sie an die Novemberpogrome? Wie ermordeten die Nationalsozialisten Ihre Großmutter? Was sind Ihre Erinnerungen an Auschwitz? Gibt es heute noch Antisemiten?

„Es ist sehr laut“, sagt Ruth Winkelmann im Kutschstall, mit der VR-Brille auf der Nase und sich selbst in 3D vor Augen. Christian Zipfel dreht die Lautstärke herunter. Als die 94-Jährige die Brille absetzt, wirkt sie nachdenklich und gerührt. Es sei nicht einfach, sich so zu sehen, sagt sie den Journalisten. „Wie ich um jedes Wort gerungen habe.“

Die VR-Technik kann die Auftritte an Schulen, bei denen sie auch auf Fragen eingehen kann, nicht ersetzen, findet Zeitzeugin Ruth Winkelmann.
Die VR-Technik kann die Auftritte an Schulen, bei denen sie auch auf Fragen eingehen kann, nicht ersetzen, findet Zeitzeugin Ruth Winkelmann.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Ob die virtuelle Aufnahme ihre Auftritte in Schulen ersetzen kann? „Nein“, sagt sie bestimmt. Dafür sei der Ausschnitt zu kurz. „Man muss die ganze Geschichte kennen.“ Zwei Stunden habe sie bei ihren Zeitzeugengesprächen. Dann könne sie auch auf Fragen eingehen. „Das ist noch wichtiger als das Erzählen“, findet Ruth Winkelmann. „Nur mit Fragen und Antworten kann man die Menschen überzeugen“, wird sie später auf der Bühne sagen.

Das Erstarken rechtsextremer Einstellungen beunruhigt die Berlinerin. Die Kette mit dem Davidstern trage sie schon länger nicht mehr öffentlich, nur noch bei Veranstaltungen als Zeitzeugin oder privat – aus Angst vor einem Angriff. Sie hoffe, dass sie in Gesprächen Hass und Antisemitismus etwas entgegensetzen kann. „Mehr kann ich nicht erreichen – leider.“ Dafür will Ruth Winkelmann erzählen. Solange es noch geht.

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