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Der Gedenkstein für deportierte und ermordete Potsdamer Juden auf dem Jüdischen Friedhof am Pfingstberg. 

© Andreas Klaer

85 Jahre Pogromnacht: Ein Trümmerhaufen in fünf Minuten

In der Nacht vom 9. auf den 10. November jähren sich die NS-Pogrome gegen Juden zum 85. Mal. In Potsdam wurde damals die Synagoge zerstört.

Der Anruf kam drei Uhr nachts. So ist es im Potsdamer SS-Diensttagebuch vom 10. November 1938 vermerkt. Per Telefon wurde ein Befehl des Reichsführers der SS durchgegeben. Sämtliche Synagogen seien sofort niederzubrennen: „Anzug Räuberzivil, Plünderungen verboten.“ Die Vollzugsmeldung solle innerhalb von zwei Stunden geschehen. SS-Oberführer Gustav Stolle und seine Männer in Potsdam brauchen etwas länger. Was genau in den Nachtstunden vom 9. zum 10. November in Potsdam geschah, hat der frühere FH-Professor Volker Schockenhoff 1998 für sein Buch „Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist“ recherchiert.

Wie in vielen anderen deutschen Städten begannen in jener Nacht Übergriffe auf jüdische Einrichtungen und eine Welle der Gewalt gegen Menschen jüdischen Glaubens und gegen jene, die die Nazis dafür hielten. Deutschlandweit wurden in dieser Nacht mehrere hundert Synagogen abgebrannt, mindestens 8000 jüdische Geschäfte demoliert und zahlreiche Wohnungen verwüstet. Rund 100 Juden wurden ermordet, Zehntausende in Konzentrationslager verschleppt. Spätestens an diesem Tag konnte jeder sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Hilfe bekamen Juden nur selten, vielerorts beteiligte sich der Mob an den gewalttätigen Übergriffen.

Potsdamer versammelten sich am Morgen des 10. November 1938 vor der zerstörten Synagoge am heutigen Platz der Einheit.
Potsdamer versammelten sich am Morgen des 10. November 1938 vor der zerstörten Synagoge am heutigen Platz der Einheit.

© Hans Weber/Potsdam Museum

In Potsdam wurden alle Männer der jüdischen Gemeinde in der Pogromnacht verhaftet, nur die über 70-Jährigen wieder freigelassen. Der Händler Abraham Kallmannsohn zum Beispiel wurde ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Dort blieb er bis Anfang Januar 1939, ehe er für weitere vier Monate im Polizeigefängnis Potsdam festgehalten wurde. „Überall spontane antijüdische Aktionen“ titelte die Potsdamer Tageszeitung am 10. November 1938, berichtet von Angriffen auf „jüdische Läden“ und fabelt etwas von angeblich in der Synagoge gefundenen Waffen.

Die Bänke zerschlagen, die Thorarollen in Stücke gerissen

Das 1903 errichtete neobarocke Gotteshaus am heutigen Platz der Einheit wurde in den Morgenstunden zerstört. Um 5.30 Uhr drang eine fünfköpfige Abordnung mit einem Gestapo-Beamten als Anführer in die Wohnung von Rabbiner Herrmann Schreiber ein, wie bei Schockenhoff nachzulesen ist. Die Männer fordern die Schlüssel für die Synagoge.

An der Synagoge warteten bereits die Komplizen. In blindem Hass wüteten sie los: Die Fenster werden mit hölzernen Übungsgranaten eingeschlagen, Leuchter heruntergerissen, Bänke zerschlagen, die Sitze des Rabbiners zerhackt, die Vorhänge des Thoraschreins zerfetzt, die Thorarollen in Stücke gerissen, der große Chanukaleuchter als Brechstange genutzt. In nur fünf Minuten habe sich die Synagoge in einen Trümmerhaufen verwandelt.

Antisemitische Randalierer waren nicht nur in der Innenstadt unterwegs. Die jüdische Kapelle auf dem Pfingstberg wird in dieser Nacht ausgebrannt. Auch im beschaulichen Caputh kommt es zum Gewaltexzess, dort verwüsten rund 120 Angreifer das Jüdische Landschulheim.

Die Reichspogromnacht bildet den Auftakt zu einer neuen Qualität der systematischen Judenverfolgung. Doch der Antisemitismus kam nicht über Nacht. Schon 1901 hatte die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung versucht, gegen das Schächten als Schlachtmethode vorzugehen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzten rasch die ersten Repressionen ein. Schon im Frühjahr 1933 fielen Gerichtstermine aus, da die jüdischen Rechtsanwälte in ihrer Tätigkeit beschränkt wurden. Die Lokalpresse berichtete davon, dass das Betreten jüdischer Geschäfte vielfach gänzlich verhindert wurde, „zum Teil durch Bildung einer Postenkette“. Im Juli 1934 wurden die Straßenschilder in der Ebräerstraße abmontiert und durch den Namen Kupferschmiedsgasse ersetzt.

1943 wurde der letzte Potsdamer Jude deportiert

Nach der Pogromnacht verschärften sich Gewaltaktionen gegen Juden. Sie wurden in die Emigration gedrängt oder deportiert. 1939 lebten in Potsdam laut Statistik 175 „Glaubensjuden“ – im Jahr 1925 hatte die jüdische Gemeinde noch 626 Mitglieder gezählt.

Am 11. Januar 1942 wurden etwa 40 jüdische Männer, Frauen und Kinder auf Lastkraftwagen nach Berlin zur Sammelstelle für die Deportation ins Ghetto von Riga gebracht. Dort ließ man die Deportierten verhungern, viele wurden erschossen oder arbeiteten sich zu Tode. In den zeitgenössischen Akten findet sich der Hinweis auf die polizeiliche Abmeldung des 62-jährigen „Auswanderers“ Wilhelm Kann vom 18. Juni 1943. Er wurde deportiert und starb in Theresienstadt. Er war der letzte in Potsdam lebende Jude.

Erst 1991 wurde im Land Brandenburg wieder eine jüdische Gemeinde gegründet.

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