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SERIE: Aufbruch zum Abbruch Abenteuer Berlin

Als Berlin nicht mehr zwei ist, wird es noch lange nicht eins. Der Vollzug der Einheit stürzt die Stadt in Arbeitslosigkeit, Unübersichtlichkeit und eine Sinnkrise. Zwischen den Menschen wachsen neue Vorurteile. Und im Osten findet die eigentliche Revolution statt – die der Lebensumstände und der Biografien

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Der Alexanderplatz war das Zentrum Ost-Berlins. Und das Centrum-Warenhaus, hier eine Aufnahme von 1976, lockte nicht nur Bürger der DDR zum Einkauf sonst seltener Waren. Doch wie viele Prestigeprojekte und Firmen der ostdeutschen Wirtschaft verschwand auch das Kleinod im Baustil der klassischen Moderne im Zuge der deutschen Einheit.

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Noch heute ist der Alexanderplatz einer der belebtesten Orte Berlins. Doch selten lädt die steinerne Fläche am alten Brunnen der Völkerfreundschaft zum längeren Verweilen ein. Und im Kaufhof-Warenhaus gibt es hinter einer neuen Fassade vieles zu kaufen, das auch sonst in den Warenhäusern der Stadt angeboten wird. Sein Flair sucht der Alex noch.

Nach dem stürmischen Jahr der Vereinigung ist Berlin auf dem Boden der Tatsachen angekommen – und der ist voller Widerstände, Verwerfungen, neuer Erfahrungen. Denn das Wort von der „Mauer in den Köpfen“ ist in Berlin mehr als eine händeringende Phrase. Die Vereinigung hat die Unterschiedlichkeit von Westen und Osten, bislang ein resignativ hingenommenes Anhängsel der Teilung, zum beherrschenden Thema des Alltags gemacht. Sie konfrontiert die Stadt permanent mit den Distanzen zwischen dem aufgerissenen Ost-Berlin und der bürgerlichen Selbstgewissheit West-Berlins. Sie wird zum Stachel in einem unübersichtlichen Alltag voller Stöße und Spannungen. Täglicher Stau am Potsdamer Platz, zäher Stop-and-go-Verkehr so gut wie überall in der Stadtmitte. Bis zur Mitte des Jahres 1991 bleiben Telefongespräche zwischen Westen und Osten regelmäßig nach den ersten Ziffern am Besetztzeichen hängen. Im Osten bricht mehrmals täglich das Chaos aus. Aber auch im Westen wächst die Gereiztheit. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist die strapaziöse Signatur der Stunde.

Aber ist die Stadt nicht zugleich voller Wunder? Kann man nicht immer noch darüber staunen – und man staunt, wenngleich etwas leiser als noch vor einem Jahr –, dass die S-Bahn wieder ohne Halt zwischen Osten und Westen verkehrt und der Reichstag, der jahrzehntelang ein einsamer Erinnerungsposten am westlichen Ende der Stadt war, nun plötzlich fußläufig nahe an den Boulevard Unter den Linden im Osten herangerückt ist? Noch immer stellt sich der „leise Stich eines Glücksgefühls“ (Klaus Hartung) ein beim Überqueren der alten Grenzübergänge oder bei der Wahrnehmung, dass die Mitte der Stadt nicht mehr von Mauer und Todesstreifen zerschnitten wird. Und ist es nicht eine tägliche Versicherung, dass Berlin wieder Berlin wird, wenn der Blick an den alten innerstädtischen Grenzzonen vom Osten frei herüber in den Westen geht und umgekehrt? Auch wenn die Prognosen über das Zusammenwachsen noch immer mit Generationen rechnen – die harten Unterschiede beginnen abzuschmelzen. „Allmählich kommen die Prozesse der Annäherung, Durchmischung und Urbanisierung in Gang“, beobachtet Joachim Nawrocki, der langjährige Berlin-Korrespondent der „Zeit“ am Ende des Jahres 1991.

Auch absolvieren Politiker, Planer und Journalisten in Reden und Artikeln weiter ihre zukunftsgewissen Klimmzüge an dieser brüchigen Wirklichkeit und betätigen sich als unverdrossene Transporteure ermutigender Botschaften: Berlin werde das Scharnier der deutschen Einigung sein, eine Drehscheibe zwischen Ost und West, der Ort des Griffs ins Morgen und Übermorgen, „allein in der Größe des Ballungszentrums“ liege „ein enormes Wachstumspotenzial“, versichert der Vorstandschef des großen Berliner Pharmakonzerns. Und sind solche Perspektiven aus der Luft gegriffen? In der Berliner Mitte gibt es kaum noch eine attraktive Parzelle, auf die Investoren nicht ihre Hand gelegt haben, und die Aufnahme des Intercity-Verkehrs schließt den alten Bahnknotenpunkt Berlin, der vier Jahrzehnte lang vom europäischen Verkehrsnetz abgehängt war, wieder an die Lebensadern an – endlich wird absehbar, dass Zugfahrten zwischen Berlin und der alten Bundesrepublik den Expeditionscharakter verlieren, den sie jahrzehntelang hatten. Mit Plänen für einen Großflughafen und dem Beschluss, dass Berlin sich für die Olympischen Spiele 2000 bewerben werde, greift die Stadt nach der Jahrtausendwende. Noch immer erscheint alles möglich, und die Gegenwart der Stadt hängt hin- und hergerissen zwischen Zukunft und Vergangenheit.

Umso deutlicher stellt sich heraus, dass der Ostteil der Stadt zur großen Problemzone der Vereinigung wird. Aus dem Aufbruch ist ein radikaler Umbruch geworden, der tief in alle Lebensverhältnisse eingreift. Dass die Wiedervereinigung den ehemaligen DDR-Bürgern nicht nur Lebenschancen eröffnet, von denen sie kaum noch zu träumen wagten, sondern ihnen auch eine an die Wurzeln gehende Umstellung aufzwingt, wird in Berlin, im Mit- und Nebeneinander von Ost- und Westleben, stärker spürbar als anderswo. „Die Einigung geht allen durch Mark und Bein“, bekennt Anfang 1991 die „Neue Zeit“, das frühere Zentralorgan der Ost-CDU. Die gemeinsame Freude, die Ost- und West-Berliner beim Mauerfall vereinte, wird immer massiver konterkariert von den Erfahrungen der Ost-Berliner mit ihrer Gegenwart – und diese Erfahrungen trennen.

Die Euphorie des Anfangs kommt bei vielen – je länger, desto mehr – als Schock an. Umso massiver gestaltet sich das Fernduell der Vorbehalte und Vorurteile, mit denen sich beide Seiten belegen und befehden. Das „Ossi“-„Wessi“-Syndrom hält es in heftiger Bewegung: Die einen zerreißen sich den Mund über die „Jammer-Ossis“, die anderen über die „Besser-Wessis“. Der Dauerbrenner explodiert eines Tages grotesk in der Schlagzeile eines Boulevardblattes: „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen. Ganz Bernau ist glücklich, dass er tot ist.“ Später stellt sich heraus, dass es sich bei dem Vorfall im Berliner Umland um einen gewöhnlichen Kriminalfall handelt, der mit dem Ost-West-Verhältnis nichts zu tun hat.

Das alles vollzieht sich vor einem fast schlagartig verdunkelten Hintergrund. Immer dramatischer werden die Hiobsbotschaften, die aus dem Osten Berlins kommen. Mit Firmenkrisen und Massenentlassungen treffen die wirtschaftlichen Umwälzungen in der Stadt ein, die die deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 in Gang gesetzt hat. Bereits zu Beginn 1991 hat Arbeitssenatorin Christine Bergmann erklärt, dass sich die Beschäftigungslage „dramatisch zugespitzt“ habe. Sie kommt aus dem Osten, und sie fügt ihrer Botschaft das bewegende Bekenntnis hinzu, den „Traum niemals vergessen“ zu wollen, „den ich hatte, als die Mauer aufging“. Doch die Zahlen sind niederschmetternd: 72 000 Arbeitslose im Osten, dazu 82 000 Kurzarbeiter, da ist die Arbeitslosigkeit schon vorprogrammiert; im Westen sind es 92 000, Tendenz steigend. Und Zehntausende befinden sich in sogenannten „Warteschleifen“, die in den meisten Fällen nur die Aufschiebung der Arbeitslosigkeit bedeuten. Die Zahl derer, die auf diese oder jene Weise hineingezogen werden in die Zentrifuge von bürokratischen Regelungen und Entscheidungen, reicht in die Hunderttausend. „Abwicklung“ und „Überleitung“, „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ und „Strukturanpassungen“ heißen die Begriffe, die den Versuch chiffrieren, den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft im Osten in den Griff zu bekommen – administrative Formeln, die einen bösen Klang von Schicksalhaftigkeit bekommen.

Für den Industriestandort Ost-Berlin kommt diese Entwicklung einem Zusammenbruch gleich. Mitte 1991 sind von 200 000 Stellen in Ost-Berlin noch 50 000 übrig, Wirtschaftsforscher halten davon gerade 20 000 für wettbewerbsfähig. Das Desaster hat historisches Format. Denn es stößt gerade die einstigen DDR- Paradebetriebe in einen Teufelskreis von Produktionseinbrüchen, Kurzarbeit und hektischer Suche nach Investoren. Verzweifelt versuchen Geschäftsführungen und Betriebsräte, zu retten, was nicht zu retten ist. Über Wochen und Monate dauern die Überlebenskämpfe, Massenentlassungen werden angekündigt, zurückgestellt und doch vollzogen, Abteilungen geschlossen, Sanierungskonzepte entworfen und Qualifizierungsgesellschaften ins Leben gerufen, aber die Aussichten für ein Überleben werden von Woche zu Woche geringer. Auch die Wirtschaft in West-Berlin, die seit langem weitgehend zur Werkbank der Bundesrepublik geworden ist, gerät in den Abstiegsstrudel. Im September 1991 meldet der Osten 13 Prozent Arbeitslose, der Westen 11,3 Prozent.

Andere alarmierende Signale kommen vom Wohnungsmarkt. Ein Problem war die Wohnungsfrage in Ost-Berlin schon immer, doch nun kommt alles zusammen: vor allem der Verfall, der nach Renovierung schreit, dazu Alteigentümer, die nach der Aufhebung der Zwangsverwaltung ihre Wohnungen wirtschaftlich nutzen wollen, nicht zuletzt die Bewohner, die endlich von der Ofenheizung und der Toilette auf der Treppe wegkommen wollen. Erwartungen und Befürchtungen schaukeln sich hoch. Die in Umlauf gebrachten Größen für fehlende und sanierungsbedürftige Wohnungen, die geschätzten Kosten und die Fristen für Renovierungen sind horrend und taugen vor allem dazu, das gigantische Ausmaß des Problems zu verdeutlichen. Bei einem Bestand von 1,1 Millionen liegt die Zahl der fehlenden Wohnungen zwischen 90 000 und 150 000 – die eine Zahl nennt der Bausenator, die andere der Mieterverein –, „rund 300 000 Wohnungssuchende sind registriert“. Der Prenzlauer Berg, zu DDR-Zeiten ein Inbegriff Altberliner Altbauwohnens – eingeschlossen eine lebhafte kulturelle Szene –, bekommt den Titel „größtes Sanierungsgebiet Europas“ ab, von mindestens 40 000 betroffenen Wohnungen in diesem Gründerzeitviertel ist die Rede. Die Stadt entwickele sich zum Eldorado für Miethaie, es gehe zu „wie im Wilden Westen“, erklärt die Berliner Mietergemeinschaft; illegale Weiter- und Untervermietungen sind eingerissen, und der Mieterverein kündigt an, er werde dem Regierenden Bürgermeister 50 000 Protestschreiben übergeben.

Je länger er dauert, desto deutlicher zeigt sich, dass der Prozess der deutschen Vereinigung nicht nur eine so grandiose wie gewagte Operation am offenen Herzen von Politik, Ökonomie und Gesellschaft ist, sondern Züge eines Seelendramas trägt. Jetzt, „neunzehn Monate sind seit der Maueröffnung vergangen“, so schreibt der Reporter Lothar Heinke im Juni 1991 im „Tagesspiegel“, finde „die eigentliche Revolution im Osten“ statt, die der Lebensumstände und der Biografien. Entwicklungen und Veränderungen, die im Normalfall Jahre und Jahrzehnte brauchten, überwältigten die Menschen in atemberaubend kurzer Zeit. Wohl niemand trauere der DDR nach, und dennoch sei „bei vielen das Ich ins Wanken geraten. Der großen politischen Wende folgt millionenfach die Wende im Kleinen“. Der Reporter, selbst Ost-Berliner, sammelt bei seinen Streifzügen die Beispiele: die entlassene Diplomökonomin, die mit ihrem Mann eine Currywurst-Bude betreibt; die Illustratorin, die sich wegen steigender Miete von ihrem Atelier trennt, um wenigstens die Wohnung halten zu können; die einstige Atelierleiterin eines Dekorationsbetriebes, die einen Weinladen aufgemacht hat. Doch er findet auch den Ingenieur, der es mit 57 Jahren wagt, als Baustadtrat eine politische Laufbahn zu beginnen, und die Brüder, die sich durchringen, die elterliche Firma wieder zu betreiben: Auf den Tag achtzehn Jahre nach der Enteignung durch die DDR nageln sie das alte Firmenschild wieder an den Eingang ihres Betriebes.

Die Ernüchterung, ja, Enttäuschung wirft ihren Schatten auch auf die Wahrnehmung der Entwicklung der Stadt. Kann sich Berlin überhaupt noch darauf verlassen, dass die Zeit für sie arbeitet? Dass sich aus ihrer singulären politisch-geografischen Situation und ihrer Symbolkraft die strahlende Zukunft ergibt, die ihr nach dem Mauerfall vorausgesagt wurde? Selbst um die Hauptstadt, von der Berlin immer angenommen hat, dass sie der Stadt zustehe, muss sie ja kämpfen. Es führt auch kein Weg mehr an dem Befund vorbei, dass es im staatlich vereinten Berlin – wie der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen einräumt – „politisch, sozial, wirtschaftlich ... noch zwei voneinander getrennte Städte“ gibt, während die anfänglichen Hoffnungen „heute weitgehend verschwunden“ sind und selbst die Gefahr eines innerstädtischen „Gegeneinanders“ nicht ausgeschlossen ist. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Stadt inzwischen mit dem Rücken zur Wand steht und sich in den Strudeln, in die die deutsche Vereinigung geraten ist, nun weitgehend aus eigener Kraft behaupten muss.

Doch ist Berlin denn überhaupt in der Verfassung dazu? Kein Geringerer als Edzard Reuter, der Sohn des legendären Nachkriegsbürgermeisters, der als Daimler-Benz-Chef am Potsdamer Platz die größte Baustelle der Stadt vorantreibt, wirft Anfang April die Frage auf. In einer Rede, die den Berlinern in den Ohren klingt, hält er ihnen vor, allzu viele reagierten auf die neue Lage mit „Trotz und Larmoyanz“, anstatt sich „auf die eigenen Stärken und ihre Wurzeln zu besinnen“. Reuter bemängelt die ausufernden Diskussionen und sieht die Stadt in der Gefahr, zur Krisenregion zu werden. Alarmiert reagiert das Abgeordnetenhaus mit einer Debatte unter dem verschreckten Titel: „Verschläft Berlin die Zukunft?“ Sie ergibt ein gewaltiges Problemgebirge, in dem die Berliner Politiker ratlos und beunruhigt herumsteigen – der Überfülle von Einzelfragen, in die sich dieAbgeordneten verbeißen, entspricht keine Vorstellung, die eine überzeugende Perspektive böte. Aufgaben und Lösungskraft klaffen auseinander.

Unmut und Gereiztheit schießen nicht zuletzt deshalb ins Kraut, weil vom großen Aufbruch bislang so gut wie nichts zu sehen ist. Noch sind Baustellen in Berlin eine Seltenheit, auch und gerade im Osten. Dort sieht die Stadt noch immer so aus, wie die DDR sie hinterlassen hat: unaufgeräumt und vernachlässigt, die Straßen reparaturbedürftig, das Stadtbild durchsetzt von Leerflächen und Hinterhöfen, in denen irgendwelches Material vor sich hin altert, mit Häuserfronten von der bekannten bröckelnden Trostlosigkeit und der grauen Öde der Plattenbauten, und die größte Baustelle, die Friedrichstraße, „macht eher den Eindruck einer verlassenen Bauruine“. Die neue Zeit zeigt sich bislang vor allem in den vielen Reklametafeln, die für Westwaren werben und den Eindruck einer bedrückenden, lustlos auf den Aufschwung wartenden Stagnation nur noch steigern. Noch immer ist das Gefühl nicht geschwunden, dass die Zeit stehen geblieben sei, irgendwo in den Sechziger-, ja, den Fünfzigerjahren. Noch immer gehört der Braunkohlengeruch des Winters dazu. Selbst in der Mitte der Stadt, am Gendarmenmarkt und Unter den Linden, wo sich tagsüber inzwischen die Geschäftemacher und die Touristen tummeln, kehrt am Abend wieder die erschöpfte Ruhe der verschiedenen DDR ein. Angesichts der massiven Gegenwart der Zeugnisse des alten Berlins überfällt Besucher der konsternierende Eindruck, dass ein „Loch in der Mitte“ klaffe: Ist das die Vereinigung? Fängt so ein Anfang an?

Nächste Folge: Zwei Hauptstädte am gesamtdeutschen Himmel

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Operation

am offenen Herzen

Die anderen Folgen

Ein Anfang,

ein Abgrund

Zwei Hauptstädte am Himmel

Eine Stadt wird auf den Kopf gestellt

Das neue Berlin wird sichtbar

Hermann Rudolph: Berlin – Wiedergeburt einer Stadt.

Quadriga Verlag,

432 Seiten, 24,99 Euro. Das Buch erscheint am 8. Oktober.

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