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Volker Kauder (68) führt die Unionsfraktion schon seit 2005, länger als jeder seiner Vorgänger.

© John MacDougall/AFP

Volker Kauder im Interview: "Der Eindruck ist, dass der Staat nicht mehr funktioniert"

Unionsfraktionschef Volker Kauder über das Jamaika-Aus, eigene Fehler und rote Linien für die Gespräche mit der SPD. Ein Interview.

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Herr Kauder, die FDP wollte nicht nach Jamaika, die SPD windet sich – warum will keiner mit Angela Merkel regieren?

Die SPD wird nun Gespräche mit der Union führen. Das ist ein wichtiger Schritt, damit wir endlich vorankommen. Die SPD wollte sich nach dem schlechten Wahlergebnis zunächst lieber in der Opposition erholen. Nun hat sie aber letztlich auf den Bundespräsidenten gehört, der deutlich gemacht hat: Wer sich bei Wahlen bewirbt, muss auch bereit sein zur Verantwortung.

Ihre SPD-Kollegin Andrea Nahles freut sich schon darauf, dass die Union sich die SPD als Partner teuer erkaufen müsse. Stimmt also der Satz: So billig wie jetzt war die Union noch nie zu haben?

Nein.

Aber die Kanzlerin hat doch gar keine Alternative mehr, mit der sie im Zweifel drohen könnte, oder?

Die Lage ist ähnlich wie vor vier Jahren, als die Grünen keine Koalition wollten und wir nur mit der SPD verhandeln konnten. Wie damals werden wir jetzt vernünftig mit der SPD sprechen. Das bedeutet, kompromissfähig zu sein. Gerade wir als größte Fraktion im Bundestag haben natürlich auch absolute Kernforderungen. Dazu gehört die Umsetzung des mit der CSU vereinbarten Regelwerks zur Migration, die weitere Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär geschützte Flüchtlinge eingeschlossen.

Da zieht also auch die CDU eine rote Linie?

Die Kommunen haben schon jetzt große Schwierigkeiten, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Sie bitten dringend darum, dieses Problem nicht durch weiteren Familiennachzug noch zu verschärfen, zumal ja in diesem Jahr noch 180.000 weitere Flüchtlinge hinzugekommen sind. Das ist ein ganz schwerwiegendes Argument.

Die SPD hat auch ihre Wunschprojekte. Wie wäre es mit einem Tausch: Die Union kriegt ihre Flüchtlingspolitik, die SPD die Bürgerversicherung?

Die Deckelung des Flüchtlingszuzugs ist nötig, um die Akzeptanz des Asylrechts und die Integrationskraft des Landes zu erhalten. Die Bürgerversicherung löst hingegen in der Gesundheitsversorgung kein Problem. Sie wird auch nichts an den oft langen Wartezeiten bei den Ärzten ändern.

Nicht nur in der SPD herrscht wenig Begeisterung über eine neue große Koalition. Wie kann man den Eindruck vermeiden, dass sich drei Unwillige nur über vier weitere Jahre dahinschleppen?

Seit 2005 haben die Union und Angela Merkel Deutschland entscheidend vorangebracht. Wir steuern auf Vollbeschäftigung zu. Und doch muss jetzt noch stärker in die Zukunft investiert werden. Das Geld ist da. Deutschland muss in einem Kraftakt modernisiert werden – für die Menschen und mit den Menschen.

Das wollen ja interessanterweise praktisch alle Parteien – wo liegen für Sie denn die Prioritäten?

Die Liste ist lang. Das Wichtigste: Wir brauchen viel zu lange für die Umsetzung öffentlicher Investitionen – etwa im Straßen- und Schienenbau. Wir müssen bei der Digitalisierung den Turbo anwerfen. Beim schnellen Internet sind wir hintendran, Bürgerplattformen funktionieren bei uns bisher nicht. Und wir brauchen eine tiefgreifende Verbesserung der Lage an unseren Schulen. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass Deutschland in den Vergleichstests oft nur Mittelmaß ist. Das ist völlig inakzeptabel. Das muss auch die Länder mehr umtreiben.

Martin Schulz hat in seiner Parteitagsrede die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa bis zum Jahr 2025 als denkbares Ziel genannt. Kann sich die Union vorstellen, einen solchen Kurs in einer gemeinsamen Regierung mitzutragen?

Wir müssen Europa stärken. Keine Frage. Darüber werden wir auch reden. In dem Vorschlag sehe ich aber eher eine Gefahr für die EU und für die Zustimmung der Bürger zu Europa. Momentan sehnen sich die Menschen eher nach Verlässlichkeit, die sie auch in den Nationalstaaten zu finden glauben. Das muss man einfach sehen. Der Vorschlag würde zudem das Einigungswerk, das geschichtlich auf der Welt einmalig ist, aufs Spiel setzen, weil die Mehrheit der Mitgliedsstaaten sicher nicht bei der Schaffung der Vereinigten Staaten mitmachen dürfte. Ich frage mich auch, wo der Mehrwert dieser Vereinigten Staaten gegenüber dem heutigen Europa liegen soll.

An diesem Sonntag will die CDU ihr historisch schlechtes Wahlergebnis analysieren. Woran lag’s aus Ihrer Sicht?

Es gibt viele Gründe. Unser Wahlsieg stand vorher zu eindeutig fest, so dass mancher etwa zur FDP abgewandert ist. Die Flüchtlingspolitik hat ebenfalls zum Resultat beigetragen, auch wenn dieser einmalige Akt der Menschlichkeit aus meiner Sicht nach wie vor richtig war. In dem Kontext haben nicht wenige auch Sorgen geäußert. Uns wurde oft gesagt: Für die Flüchtlinge hat man Geld, für uns nicht. Menschen, die ein Leben lang gearbeitet und trotzdem geringe Renten haben, waren enttäuscht. In Ballungsgebieten wie in Berlin wurde immer wieder die Lage auf dem Wohnungsmarkt angesprochen. Obwohl die Politik an diesen Themen dran ist, wäre die Union gut beraten, als Volkspartei hier noch sensibler zu sein.

Ist die CDU am Ende Opfer des eigenen Slogans geworden: Ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben?

Die Menschen beurteilen ihre wirtschaftliche Lage nach wie vor gut, und die Situation ist unter dem Strich auch objektiv so gut wie lange nicht. Der Wahlslogan war insofern nicht schlecht. Aber es gibt eben auch eine zunehmende Verunsicherung.

Kehrt da gerade die sprichwörtliche, irrationale „German Angst“ zurück, über die das Ausland früher so oft verständnislos gestaunt hat?

Viele Menschen fürchten, dass die Lage schlechter wird, und vor allem, dass sie angesichts der Schnelligkeit der Veränderungen vielleicht nicht mithalten können. Mitarbeiter in der Autoindustrie fragen etwa, was für sie das Elektroauto bedeutet. Überall verändert die Digitalisierung die Arbeitswelt. Auf diese Sorgen müssen wir Antworten geben.

Aber was will die Politik mit ihren begrenzten Möglichkeiten denn in einem derart epochalen Umbruch den Menschen sagen?

Als die ersten Computer eingeführt wurden, gab es die gleichen Ängste. Heute wissen wir, dass der Computer sicher keine Arbeitsplätze vernichtet, aber natürlich die Arbeitswelt radikal verändert hat. Wir müssen heute wieder sagen: Die Digitalisierung kommt. Aber Unternehmer, Gewerkschaften und die Politik müssen durch Weiter- und Fortbildungsprogramme dafür sorgen, dass die Arbeitnehmer sie bewältigen können. Das ist ganz wichtig, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Zu diesen Sorgen gesellt sich bei vielen Bürgern das Gefühl, dass man sich nicht mal mehr auf schlichtesten Serviceleistungen des Staates verlassen kann.

Leider wahr. Es herrscht der Eindruck, dass der Staat selbst in Kernbereichen nicht mehr richtig funktioniert. Das gilt für die Sicherheitsbehörden, aber auch die Justiz. Mir erzählen Einzelhändler, dass Diebstahl nicht mehr richtig verfolgt wird, oder Handwerker, dass sie offene Rechnungen gar nicht erst versuchen einzuklagen.

Diese Probleme bestehen doch aber schon lange. Was soll denn jetzt Grundstürzendes passieren?

Wenn mehr Polizeibeamte eingestellt werden, muss logischerweise auch die Justiz personell verstärkt werden. In Berlin werden offenbar nur knapp 2,5 Prozent des Haushalts für Gerichte und Staatsanwaltschaften ausgegeben. Das ist einfach zu wenig. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Dem muss er gerecht werden, sonst wenden sich die Menschen vom Staat ab. Wichtiger als Steuersenkungen ist vielen, dass der Staat gerade im Bereich Innen und Recht wieder für mehr Ordnung sorgt.

Dann wird die Union wieder groß und stark wie ehedem?

Die Union hat weiter ein größeres Potenzial als 33 Prozent. Dass wir es nicht ausschöpfen konnten, lag neben den anderen erwähnten Gründen an dem internen Streit zwischen CDU und CSU über die Flüchtlingspolitik. Es wäre besser gewesen, wir hätten das Regelwerk zur Migration zwischen CDU und CSU vor der Wahl zustande gebracht und nicht erst nachher. Das muss uns eine Lehre sein. Nur einig ist die Union stark.

Viele Menschen sagen aber auch: Wir wissen gar nicht mehr, wofür die CDU steht.

Das stimmt eben nicht. Nicht zuletzt in den Jamaika-Verhandlungen hat sich gezeigt, dass zwischen den Parteien immer noch große Unterschiede bestehen.

Können Sie die FDP-Abwanderer jetzt eigentlich für die CDU zurückgewinnen, nachdem Christian Lindner vor dem Regieren gekniffen hat?

Ich mache der FDP-Spitze keine Vorwürfe. Sondierungen sind dafür da festzustellen, ob man miteinander kann. Wenn dann einer sagt: Für mich geht es einfach nicht – dann muss man das akzeptieren. Wie die Wählerinnen und Wähler darauf reagieren, wird man sehen. Aus der Wirtschaft höre ich allerdings schon Enttäuschung.

Wenn wir grade schon bei schwierigen Partnern sind: In der CSU bekommen Sie es jetzt mit einem ehrgeizigen Landesgruppenchef, einem designierten Ministerpräsidenten und einem halbierten Parteichef zu tun – sind die untereinander und mit anderen überhaupt kompromissfähig?

Also bitte! In den Jamaika-Verhandlungen saß ein in jeder Hinsicht vollständiger und kraftvoller Horst Seehofer am Verhandlungstisch. So werden wir ihn auch in den kommenden Wochen erleben.

Bei allem Optimismus müssen Sie ja damit rechnen, dass die SPD-Basis doch noch Nein sagt. Was ist Ihnen in dem Fall lieber: eine Minderheitsregierung oder dann doch besser Neuwahlen, bei denen die Menschen ja auch ihr Urteil über die Ereignisse der letzten Wochen abgeben könnten?

Wir müssen die Dinge Schritt für Schritt angehen. Jetzt hat die SPD entschieden, mit uns zu sprechen. Nächste Woche treffen wir uns in einer Spitzenrunde. Hier wird es darum gehen, eine Vertrauensbasis aufzubauen. Der Vorteil ist, dass wir nicht von null anfangen müssen, weil wir erfolgreich zusammengearbeitet haben. Ich hoffe, dass wir im Januar zu Koalitionsverhandlungen kommen. Und am Ende bin ich ganz zuversichtlich, dass die SPD-Basis um die Verantwortung weiß, diesem Land in einer nicht einfachen Zeit eine stabile Regierung zu stellen. Der SPD-Parteitag hat mich hier eher zuversichtlicher gemacht, auch wenn ich weiß, dass noch schwierige Wochen vor uns liegen. Die Nächte werden wieder lang.

In der SPD gibt es ja auch Ideen von einer Art Koalition light, bei der man sich vorher auf vier, fünf Kernthemen einigt, die SPD auch ein paar Minister kriegt, ansonsten aber jeder machen kann, was er will ...

Ich halte davon überhaupt nichts. Eine stabile Regierung ist nicht zuletzt Voraussetzung dafür, dass ein Land in einem Krisenfall, an den bei Abschluss eines Koalitionsvertrags nicht zu denken war, sofort handlungsfähig ist. Denken Sie einmal an die Finanzkrise 2008 und 2009. Da haben eine Bundeskanzlerin von der Union und ein Finanzminister von der SPD gemeinsam dafür gesorgt, dass trotz der ernsten Lage keine Panik aufkam. Und wenn wir Europa in dieser unruhigen Welt stärken wollen, brauchen wir stabile Mehrheiten. Das weiß man auch in der SPD.

Sie könnten der SPD die Sache doch bestimmt erleichtern, wenn Sie versprechen, dass es der nächste sozialdemokratische Kanzlerkandidat garantiert nicht mehr mit Angela Merkel zu tun bekommt!

Ich verspreche der SPD nur eins: Mit uns kann man gut reden und gut arbeiten wie in den vergangenen Jahren, wenn es vernünftig bleibt.

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