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1989

© akg-images / ddrbildarchiv.de

Politik: Schule der Verräter

Die Stasi suchte ihre Inoffiziellen Mitarbeiter sogar unter Kindern und Jugendlichen. Nach der Wende blieben Mielkes kleine Helfer allein zurück. Viele wurden vergessen. Sind sie Täter oder Opfer?

Die drei kommen von der Schule. Noch ein paar Monate – dann ist Abi. Die jungen Frauen, 17 und 18 sind sie, haben ihren Zug verpasst. Also vertreiben sie sich die Warterei auf den nächsten Anschluss vor dem Bahnhofskiosk. Eine trinkt Kaffee, eine bestellt eine Cola light, die dritte hat Appetit auf Currywurst.

Sie sind prächtig gelaunt an diesem sonnigen Freitag in Neuruppin. Das Wochenende steht vor der Tür, man wird in Berlin um die Häuser ziehen. Jetzt kichert man und guckt ein bisschen nach den Jungs und was so Sache ist.

Maren, die Älteste, sieht interessiert zum Nachbartisch, an dem ein Reisender liest. Was denn das für ein Buch sei, will sie wissen. Sehe aus wie ein Thriller. Sie stehe auf Thriller – aber das Buch da habe sie noch nie gesehen.

Nein, sagt der Mann, ein Thriller sei das nicht, auch keine Fiktion, „das ist alles passiert“. Er hebt das Buch in die Höhe. „Es heißt ,Stasi auf dem Schulhof’. So lange ist das alles noch nicht her. Ihre Eltern haben das noch erlebt.“

Maren – sie wird später von sich erzählen, dass sie mal Politik oder so studieren will – möchte mehr wissen. Ihre Freundinnen hören dem Gespräch zu und finden es augenscheinlich nicht spannend.

„Wann haben Sie das letzte Mal in der Schule über das Thema geredet?“, fragt der Reisende.

„Sie meinen, über die Stasi?“

„Ja.“

„Ich kann mich nicht so genau erinnern. Das war nie ein interessantes Thema. Friedrich der Große, Bismarck, 30-jähriger Krieg, die ganzen Schlachten, das war als Stoff wichtiger.“ Maren wendet sich an ihre Freundinnen. „Wisst ihr noch, wann wir die Stasi durchgenommen haben?“ Sie erinnern sich. Stasi, da war doch was. Das war doch die Geheimpolizei beim Hitler oder so. Oder irgendwas mit der DDR. Na ja, lange her.

Maren ist die Einzige, die sich auskennt. „Aber, wissen Sie, über die Stasi redet man hier nicht so sehr. Meine Eltern haben auch andere Sorgen.“

Nun mischt sich Janine ein: „Was soll das denn überhaupt heißen: Stasi auf dem Schulhof?“

Kurze Zusammenfassung des Buchs: Das Ministerium für Staatssicherheit hat sowohl Erwachsene als auch Mitschüler oder Mit-Lehrlinge auf junge Heranwachsende angesetzt, die nicht ins System zu passen schienen. Da wurde alles berichtet und vermerkt, was dem „Zielobjekt“ schaden konnte. Und wenn man es für nötig und angebracht hielt, gab es Konsequenzen: Vorladungen, Verwarnungen, Verweise, Schulverbote, Strafen. Da wurden Leben von Menschen zerstört, die noch nicht einmal ihre Jugend hinter sich gebracht hatten.

Janine ist erstaunt: „Was ist denn daran so Besonderes? Da brauche ich doch keine Stasi und kein Buch über die DDR. Da soll lieber einer was schreiben über das, was heute im Internet passiert. Da kann man dann nachlesen, wie man einen Mitschüler fertigmacht.“

Alles ist festgehalten, aber will es jemand wissen?

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR hat aufgelistet, wer im Auftrag von „Horch und Guck“ als zur wachen Beobachtung verpflichteter Bürger unterwegs war. Als der Arbeiter- und Bauernstaat seinem Ende entgegentaumelte, waren 174 000 Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi verzeichnet. Rund sechs Prozent davon hatten die Volljährigkeit noch nicht erreicht.

Ende 1989 führten 10 000 Kinder und Jugendliche – rekrutiert wurden zumeist Mädchen und Jungen mit labilem sozialen Hintergrund – ein Doppelleben. Sie mussten sich in ihrer Umgebung so bewegen und verhalten, als seien sie ganz „normal“. Und sie mussten der Staatssicherheit zuverlässig Bericht über ihre Erkenntnisse erstatten. Sie hatten es mit Führungsoffizieren zu tun, die sie regelmäßig an konspirativen Treffs sahen. Sie wurden wie Erwachsene behandelt, durften rauchen und bekamen Schnaps. Ihnen wurde gesagt, sie seien wichtig für den Staat. Sie rapportierten auf Tonbänder, sie schrieben ihre Beobachtungen auf, sie lernten eine neue Sprache.

Vor allem freilich lernten sie zu schweigen. Was die Jugendlichen da taten, durfte – außer den neuen Vertrauten von der Staatssicherheit – niemand wissen. Sie hatten sich „verpflichtet“: stillzuhalten, zu gehorchen, nicht aus der Reihe der unbekannten IM, der Inoffiziellen Mitarbeiter, zu tanzen. Für sie galt, dass sie gleichzeitig wussten und nicht wussten, was sie taten. Und für sie war etwas tabu, was für Jugendliche seit jeher fürs gesunde Erwachsenwerden ein Muss ist: das Zweifeln, das Sich-Auflehnen, das Sich-die-Hörner-Abstoßen.

Klaus Behnke und Jürgen Wolf, die Herausgeber von „Stasi auf dem Schulhof“ beschreiben das Einnorden der jungen IM folgendermaßen: „Die Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht, haben vielfach nicht gelernt, ein Leben in Eigenverantwortung zu führen. Das war die Methode des MfS und das gewollte Resultat, nicht ein Nebeneffekt. Dieses Resultat wurde nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern bewusst herbeigeführt. Es war eine Methode der Herrschaftssicherung, die nicht auf Legitimation durch breite Zustimmung beruhte, sondern auf Folgsamkeit durch Kontrolle und Disziplin. Diese Methode zielte auf die Externalisierung des Gewissens.“

Die Rekrutierung und die Führung der jungen IM war – zynisch ausgedrückt – eine Meisterleistung. Vor allem Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, erwarb sich da Verdienste. Er ließ „Arbeitshinweise für die Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR“ erarbeiten und zeichnete sie anschließend ab. Da hieß es unter anderem: „Ideologisch schwankende Jugendliche werden durch zweckentsprechende politisch-operative Maßnahmen und ebenfalls unter Einschaltung äußerer Einflüsse in positive Bahnen gelenkt. Dabei werden jene Einflüsse, die den negativen Kern bilden, isoliert und unter entsprechende gesellschaftliche Erziehung gestellt. Die direkten Feinde sind in Bearbeitung zu nehmen und unter Einsatz aller operativen Mittel und Methoden zu bekämpfen und zu liquidieren.“

Was für eine Un-Sprache. Herta Müller, die Literatur–Nobelpreisträgerin, hat in einem Vorwort für „Stasi auf dem Schulhof“ über das Phänomen der Sprachvernichtung nachgedacht. Sie erinnert sich dabei an ihre Zeit als Kindergärtnerin in Rumänien: „Ich sagte damals oft, die jüngsten Funktionäre im Land seien die ältesten. Denn sie schafften die Imitation des Diktators ohne Anstrengung, wie es schien und perfekter als die älteren. Natürlich hatten sie diese auch nötiger, ihre Karriere hatte erst angefangen. Aber nachdem ich mit Kindergartenkindern zu tun hatte, blieb mir die Meinung nicht erspart, dass die Jungfunktionäre gar nicht imitierten. Sie waren es selber, sie hatten gar keine andere, eigene Gestik.“

Der Psychologe und Autor Klaus Behnke ist einer, der zuhören kann. Er nimmt selbst dann noch etwas wahr, wenn nichts gesagt wird: „Es gibt da dieses Schweigen. Niemand will reden.“ Aber es sei zu kurz gedacht, wenn man nur von Opfern und von Tätern spricht. Behnke hat eine ganze Reihe ehemaliger IM gut kennengelernt. „Und viele dieser Frauen und Männer haben eine große Verwundung mit in das neue politische System gebracht.“

Manchmal gelingt es nicht einmal dem Psycho-Profi Behnke, den Zorn über das, was seinen Patienten widerfahren ist, ganz zu unterdrücken. Zu drastisch ist das Ergebnis einer jahrelang verdrängten Vergangenheit, die in zähen kraftraubenden Therapien aufgearbeitet werden muss. Die Liste der Folgeschäden reicht von Alkoholismus über andere Suchterkrankungen, psychosomatische Störungen, Verfolgungswahn, Phobien, Herzrasen, Schwindelgefühle, ausgeprägte Identitätsdiffusion, Verlassenheitsgefühle, sexuelle Störungen, partnerschaftliche Probleme, innere Unsicherheit, Beeinträchtigungen im Berufsleben bis hin zur Arbeitslosigkeit.

Aber nur wenige der Menschen mit einer „Stasi auf dem Schulhof“-Karriere haben die Chance, das Geschehene mit einem Experten aufzuarbeiten. Die meisten sind seit der Wende auf sich gestellt.

„Diese Frauen und Männer sind sehr allein“, sagte Behnke, „sie haben niemandem zum Reden, oft werden sie sich ihres Grundproblems gar nicht bewusst. Sie können gar nicht anders: Sie schaukeln sich mit ihrer Verwundung so durch.“

Die Menschen mit einer „Stasi-Jugend“, die Klaus Behnke beruflich trifft, tun sich schwer, sehr schwer. Da kam zum Beispiel dieser Mann, der hier zu seinem Schutz nur Manfred genannt werden soll. Ein Kind, das in einer kalten Familie aufgewachsen ist. Die Mutter war dominant und fordernd, die Geschwister ehrgeizig und harte Konkurrenten im Wettrennen um Anerkennung, der Vater berufsbesessen und gefühlskalt. Manfred ist einer, der seelisch ausgehungert wurde – und er ist gründlich aus der Bahn geschleudert worden. Hochintelligent ist er, belesen, beredt, sensibel – und sehr kaputt.

Manfred, der Überqualifizierte, hat vor einiger Zeit auch den letzten Job verloren. Er lebt von Hartz IV und träumt davon, noch einmal von vorne anzufangen. Aber er ist schwerer Alkoholiker, und es ist noch nicht so lange her, dass er unter schlimmsten Wahnvorstellungen litt. Dieser Manfred, dieser ehemalige Stasi-Musterknabe, steht immer noch an der Klippe. Wenn er sich jetzt nicht fängt, wird er abstürzen.

Angefangen hat bei ihm alles wie bei vielen anderen, die als Jugendliche angeworben wurden. Das erste Gespräch findet 1982 statt, als er gerade 17 geworden ist. Die Herren gehen auf ihn ein, er wird „bemuttert“, wie er heute sagt. Manfred fühlt sich herausgehoben, als etwas Besonderes, er ist endlich jemand. Denn die Offiziere des MfS fordern nicht nur (wie der Vater), sondern loben ihn und heben seine Fähigkeiten hervor.

Vorher war er ein ruhiger, zurückgezogener und sehr leistungsorientierter Junge, eher ein Einzelgänger, der viel gelesen hat und für sich Klarinette spielte. Er war unsportlich, und die Mädchen wollten von ihm nur die Schulaufgaben.

Manfred fertigt nun Berichte über Mitschüler und deren Familien, aber auch über Lehrer an. Nach seinem 18. Geburtstag erfolgt die schriftliche Verpflichtungserklärung, nachdem er sich zuvor nur mündlich verpflichtet hatte. Aufgrund seiner Schulleistungen, Abitur mit Note Eins, wird Manfred zu einem Auslandsstudium delegiert. Offiziere der Hauptverwaltung Aufklärung melden sich bei ihm und teilen ihm mit, dass er für eine Auslandstätigkeit auserwählt sei. „Das Auserwähltsein fand ich das Spannendste“, sagt Manfred heute. So sei er, wie er sagt, „auf den Balkan“ gekommen.

Seine IM-Tätigkeit besteht während dieser Zeit vor allem darin, westliche Studenten zu identifizieren, die für eine Zusammenarbeit mit der Abteilung „Kommerzielle Koordination“ von Alexander Schalck-Golodkowski im Ministerium für Außenhandel infrage kämen.

Manfred war der Aufgabe nicht gewachsen. Der Einser-Mensch implodierte. Die Stasi ließ ihn fallen. Und dann war die Stasi nach der Wende ganz weg. Und Manfred war völlig auf sich allein gestellt. „Mir hat dann die Führung gefehlt, die wollten nicht mehr. Ich war so weit eingeschüchtert, dass ich es in mir eingrub und habe dann ständig gesoffen“, sagt er. Sein Leben sei dann „wie Bukowski live“ gewesen, nur, dass ihm, anders als dem amerikanischen Schriftsteller, die Fähigkeit fehlt, diese Alkoholexzesse und Verwahrlosung aufzuzeichnen und zu beschreiben. „Und dann die Verfolgungszustände. Es kam, und ich musste saufen, dann immer die Erinnerungsschleife, Suff, dann wieder besser, aber dann wurde es immer wieder schlimmer. Erst war ich plötzlich jemand, ich hatte Macht, die ich vorher nie hatte. Zuerst das Spiel mit der Macht, und dann war ich ein Nichts, eine Nichtigkeit.“

Jörn Mothes, kurz nach der Wende Mitarbeiter des Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit/Mecklenburg-Vorpommern, hat sich in einem Forschungsprojekt ausführlich mit der Seelenlage der ehemaligen jugendlichen IM befasst. Mothes sieht für die geschädigten Stasi-Zuträger nur eine Chance der allmählichen Gesundung: „Es gibt kaum Möglichkeiten zur begrifflichen Abstraktion. Es sind Einzelschicksale, die ihr Stigma nicht loswerden, solange man ihre Geschichte nicht hört.“ Ein fataler Kreislauf, die vormaligen Täter-Opfer wollen reden, können nicht reden, und wenn sie es doch schaffen, will keiner ihre Geschichte hören.

Auch Bundespräsident Joachim Gauck hat schon in schauderhafte Abgründe des Stasi-Sumpfes schauen müssen. Er weiß ebenfalls, was den jungen Menschen widerfahren ist, die als IM angeworben worden sind: „Auch unsere Kinder? Gefangen in ihren kleinen Geschichten, ihren überströmenden Gefühlen und ihrer Suche nach eigenen Wegen, waren sie den Machthabern ausgesetzt, wenn wir sie nicht genug schützen konnten“, schreibt er im Vorwort des Buches. „Oder wenn sie von willfährigen Eltern, selbst der Obrigkeit erlegen, zum Spitzeldienst verführt wurden.“ Brüche, Traumata und Verletzungen, seien die Folgen, all das wurde diesen Kindern und Jugendlichen in den diktatorisch geprägten Familien zugefügt. „Sie gerieten zum Hebel der seelischen Verführung durch die Machthaber“, schreibt Gauck weiter.

Die vormaligen Jugendlichen waren Opfer in ihrer Täterschaft und sind Opfer noch heute, mehr als 20 Jahre, nachdem ihre Spitzeldienste nicht mehr gebraucht wurden. Aber wer will das noch wissen?

Detlef Vetten

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