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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)

© AFP/Tobias Schwarz

Einzelgänger in der EU-Politik: Wie Scholz Europa vernachlässigt und die Partner vor den Kopf stößt

Die europapolitische Bilanz des Kanzlers fällt im ersten Regierungsjahr durchwachsen aus. Vor allem das deutsch-französische Verhältnis hat gelitten. Eine Analyse.

Die europapolitische Bilanz des ersten Regierungsjahres des Kanzlers fällt durchwachsen aus. Selbst innerhalb des Regierungslagers gibt es tiefe Enttäuschung über die EU-Politik der Ampel.

Olaf Scholz ist dafür bekannt, europapolitische Visionen, wie sie etwa der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz immer wieder geäußert hat, mit einer gehörigen Prise Realismus zu versehen. Wer Visionen habe, meinte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal, solle zum Arzt gehen. Ähnlich hält es auch Scholz. Für politische Träumereien ist er nicht bekannt.

Mindestens eine europapolitische Vision findet sich allerdings doch im Koalitionsvertrag von Scholz‘ Ampelregierung. Die laufende Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union, so wurde es vor gut einem Jahr aufgeschrieben, „sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“.

Vor einem Jahr wurde in Berlin der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung unterzeichnet.
Vor einem Jahr wurde in Berlin der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung unterzeichnet.

© dpa/Michael Kappeler

Mehr europäischer Ehrgeiz als die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ geht kaum. Auch schon im Hier und Jetzt wollten SPD, Grüne und FDP eine Regierung sein, die „deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert“ und „eine aktive Europapolitik“ betreibt. Entsprechend hoch waren die Erwartungen im In- und Ausland.

Der europäische Laden wird zusammengehalten

Doch inzwischen ist Katerstimmung eingekehrt. Statt am Haus Europa weiterzubauen, musste die Ampel die Zeitenwende einleiten. Der russische Einmarsch in der Ukraine zwang Scholz sowie die Staats- und Regierungschefs der übrigen 26 EU-Staaten dazu, schnell nach Gegenmaßnahmen zu suchen.

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Dabei ist es Scholz und seinen Kolleginnen und Kollegen aus der EU bislang immerhin gelungen, den europäischen Laden zusammenzuhalten: Acht Sanktionspakete haben die EU-Staaten bislang gegen Russland beschlossen.

Allzu oft trat Deutschland dabei aber als Bremser auf. Für ein Ölembargo gegen Moskau wollte sich die Bundesregierung auf EU-Ebene erst zu einem Zeitpunkt stark machen, als ein Abkoppeln vom russischen Öl gefahrlos erschien. Als sich Berlin aber einmal für den Ausstieg aus russischem Öl entschieden hatte, warb die Bundesregierung umso kraftvoller in Brüssel dafür. „Durch die Sanktionen sorgen wir dafür, dass ein weiteres militärisches Vorgehen in anderen Regionen aus russischer Kraft allein in den nächsten Jahren nicht möglich ist“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) seinerzeit im Mai.

Trotz derartiger kraftvoller Worte gilt Deutschland – und damit Kanzler Scholz – auf EU-Ebene als Einzelgänger. Das zeigt sich vor allem in der quälenden Debatte über eine mögliche Deckelung der Gas-Importpreise. Die Bundesregierung hat sich in dem Streit besonders tief eingegraben. Ein allzu strikter Gaspreisdeckel werde möglicherweise dazu führen, dass Europa künftig gar nicht mehr mit Gas beliefert werde, heißt es immer wieder aus Berlin.

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Zwar steht Scholz mit dieser Argumentation nicht ganz allein da. Auch sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte denkt ähnlich. Aber kein Land trägt die Bedenken gegen einen strikten Gaspreis-Deckel in Brüssel so vehement vor wie Deutschland. Damit macht man sich eben im Club der 27 EU-Staaten keine Freunde.

Das 200-Milliarden-Paket wurde genauso lausig kommuniziert wie der China-Besuch.

Gunther Krichbaum, europapolitischer Sprecher der Unionsfraktion, über Scholz’ EU-Politik

Auch gegen einen Vorschlag der EU-Kommission, durch die Bündelung der Bestellungen günstiger am Markt einkaufen, gab es nicht zuletzt in Berlin marktwirtschaftliche Bedenken. Erst Ende Oktober wurde ein eher weicher Kompromiss gefunden. „Wenn wir früher unsere Blockadehaltung aufgegeben und gemeinsam eingekauft hätten“, heißt es verärgert in Regierungskreisen außerhalb des Scholz-Lagers, „wären die Preise womöglich gar nicht erst so stark gestiegen.“

Milliardenschwere Abfederung für Energiekrise

Noch verheerender als Deutschlands Haltung bei der Diskussion um einen Maximalpreis bei Gasimporten und den gemeinsamen Einkauf wirkte auf die EU-Partner Scholz‘ 200-Milliarden-„Doppel-Wumms“, mit dem die Ampel die Folgen der Energiekrise abfedern will. Das Berliner Milliardenpaket, das zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Energiebeschaffung in den übrigen EU-Staaten hat, war nicht mit den europäischen Partnern abgesprochen.

Zu den ersten, die verschnupft reagierten, gehörte der frühere italienische Ministerpräsident Mario Draghi. Am deutlichsten brachte aber Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron seine Verärgerung über die deutsche Politik zum Ausdruck. „Es ist weder für Deutschland noch für Europa gut, wenn Deutschland sich isoliert“, sagte Macron im Oktober bei einem EU-Gipfel in Brüssel.

Olaf Scholz und Emmanuel Macron am 9. Mai 2022 in Berlin
Olaf Scholz und Emmanuel Macron am 9. Mai 2022 in Berlin

© AFP/John Macdougall

In Frankreich, das bislang in Berlin für die gemeinsame Gestaltung der EU-Politik als unverzichtbar galt, kam auch Scholz‘ Kurs in der China-Politik schlecht an. Der Kanzler legte großen Wert darauf, als erster westlicher Regierungschef dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping nach dessen Wiederwahl zum Parteichef seine Aufwartung zu machen. Macron wäre es hingegen lieber gewesen, gemeinsam mit dem Kanzler in Peking die gemeinsamen europäischen Interessen zu vertreten.  

„Lausige“ Kommunikation in der Politik

Der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion, Gunther Krichbaum zieht eine entsprechend negative Bilanz der EU-Politik des Kanzlers. „Olaf Scholz ist noch nicht in Europa angekommen“, sagte der CDU-Politiker dem Tagesspiegel. „Das 200 Milliarden-Paket wurde genauso lausig kommuniziert wie der China-Besuch, bei dem er sich von der chinesischen Propaganda instrumentalisieren ließ“, so Krichbaum.

Der Unions-Politiker kritisiert vor allem, dass Scholz „in Rekordzeit von nur einem Jahr“ das deutsch-französische Verhältnis „zu einem nie da gewesenen Tiefpunkt geführt“ habe. Dem Kanzler „fehlen Gefühl, Empathie und Kompass, um das Europa von Morgen mitgestalten zu können“, lautet sein Urteil.

Die Ampel-Fraktionen haben klar Stellung bezogen.

Michael Link, europapolitischer Sprecher der FDP, zur Haltung gegenüber Ungarn

In der Ampel wollen das nicht alle so stehen lassen. Michael Link, der europapolitische Sprecher der FDP-Fraktion und zugleich Transatlantikkoordinator im Auswärtigen Amt, streicht die Verdienste der Bundesregierung bei der schnellen Umsetzung der Sanktionen gegen Russland und der Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die angegriffene Ukraine heraus.

Dank der Bundesregierung habe die EU unter Beweis stellen können, dass sie „auch schnell sein kann und nicht immer ein schwerer, ungelenker Tanker ist“, so Link. Die Ratifizierung des europäischen Freihandelsabkommens mit Kanada durch den Bundestag steht für den FDP-Politiker ebenfalls auf der Habenseite als „wichtiges, lange überfälliges Signal an die anderen EU-Mitgliedsstaaten“.

Und in Bezug auf die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hätten „die Ampel-Fraktionen klar Stellung bezogen“ und den Auszahlungsstopp von 7,5 Milliarden an EU-Strukturfondsmitteln unterstützt. Allerdings gibt auch Link zu, dass es vor allem um die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht zum besten steht: „Doch da ist bestimmt noch mehr drin.“

So wohlwollend wird Scholz‘ bisherige Europapolitik nicht überall im Regierungsapparat bewertet. Gerade, wenn die Sprache auf die politischen Beziehungen zwischen Berlin und Paris kommt, schlägt manch einer in Berlin die Hände fassungslos über dem Kopf zusammen. Schließlich ist möglichst großes deutsch-französisches Einvernehmen zwar nicht hinreichende, aber notwendige Basis jeden europäischen Fortschritts.

Schwierige politische Beziehungen zwischen Berlin und Paris

Zu Irritationen zwischen Berlin und Paris führte auch der Kauf von US-Kampfjets als Tornado-Nachfolgemodell für die sogenannte nukleare Teilhabe, bei dem Scholz und Verteidigungsminister Christine Lambrecht (SPD) als Protagonisten wirkten.

Die Entscheidung für die US-Jets war einerseits nachvollziehbar, weil sie schneller entsprechend ausgerüstet werden können als die Eurofighter, an deren Bau der Airbuskonzern mit seiner deutsch-französischen Beteiligung mitwirkt. Paris wähnte vor allem das gemeinsame Kampfflugzeugprojekt FCAS in Gefahr. Nur mühsam konnte ihm neues Leben eingehaucht werden – und das erst, nachdem Macron öffentlich über die deutschen Alleingänge geklagt hatte.

Scholz ist immer skeptisch gegenüber Frankreich.

Einschätzung aus Regierungskreisen in Berlin

All das gipfelt in harschen Worten über den Kanzler, der einst als Finanzminister den milliardenschweren Corona-Aufbaufonds mitersonnen und damit europäische Geschichte geschrieben hatte. „Olaf Scholz ist kein eingefleischter Europäer“, heißt es in diesen Regierungskreisen, „er mag weder Brüssel noch die EU- Kommission und ist immer skeptisch gegenüber Frankreich.“

Immerhin versuchte der Kanzler im August, einen größeren europapolitischen Aufschlag mit einer Rede in Prag zu machen. Dabei regte er auch ein neues Luftverteidigungssystem in Europa an. Der Kanzler erklärte damals, eine gemeinsam aufgebaute Luftraumverteidigung „wäre nicht nur kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene, teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut“. Vielmehr wäre ein solches System auch „ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa“.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht setzte die Initiative einer europäischen Luftverteidigung ohne Frankreich ins Werk.
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht setzte die Initiative einer europäischen Luftverteidigung ohne Frankreich ins Werk.

© dpa/Uwe Lein

Der Kanzler kann sich zugute halten, dass inzwischen 14 EU-Staaten ihr Interesse bekundet haben, an der „Sky Shield“-Initiative teilzunehmen. Bei der europäischen Luftverteidigung handelt es sich aber um ein langfristiges Projekt, das nach der Vorstellung des deutschen Regierungschefs innerhalb der nächsten fünf Jahre verwirklicht werden sollte. Zu den Defiziten des Projekts gehört auch, dass Lambrecht die „Sky Shield“-Initiative ohne Frankreich in die Wege leitete.

Gemischt ist auch die Bilanz von Scholz‘ zweitem Vorstoß aus der Prager Rede. Er schlug vor, in der gemeinsamen Außenpolitik oder der EU-Steuerpolitik „schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen“.

Zwar ist die Abschaffung des Vetos ein europapolitischer Dauerbrenner – allerdings ist auch den Fachleuten im Auswärtigen Amt in Berlin unklar, wie Scholz‘ Initiative zur Abschaffung des Vetos in der Praxis umgesetzt werden soll.

Die mangelnde Verdrahtung zwischen Scholz‘ europapolitischem Denken und vielen der übrigen EU-Entscheider im Regierungsapparat lässt sich auch auf anderer Ebene beobachten. Im Kanzleramt gilt nur ein kleiner Kreis um den Staatssekretär Jörg Kukies als wirklich ins letzte Detail eingeweiht über die EU-Politik des Regierungschefs.

Nicht nur auf EU-Ebene neigt der Kanzler offenbar zu europapolitischen Alleingängen – sondern selbst innerhalb der eigenen Regierung.

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