zum Hauptinhalt
Mann verlässt Kirche (Symbolbild)

© dpa/Ingo Wagner

Rekordzahl an Austritten: Die Kirchensteuer ist nicht mehr zeitgemäß

Beiden christlichen Kirchen laufen in Deutschland die Mitglieder davon. Die vom Staat eingezogene Steuer ist für die Kirchen zwar bequem, aber womöglich macht es sie auch bequem.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Das Siechtum lässt sich in die Länge ziehen. Dann wird weiter geschrumpft und gekürzt. Dann wird jede neue Rekordaustrittszahl mit den ewig gleichen Parolen kommentiert. Dann werden Kirchen geschlossen oder umgewidmet, Gemeinden zusammengelegt. Schließlich ist Jesus auch unter denen, die nur zu zweit oder dritt „in seinem Namen zusammenkommen“, wie es bei Matthäus heißt. Am Ende löscht dann der letzte Gläubige das Licht der Altarkerzen.

Aus der Evangelischen Kirche traten im vergangenen Jahr 380.000 Menschen aus. Die Reaktionen der Kirchenoberen darauf sind gekennzeichnet von Ratlosigkeit.

Die einen „schmerzt“ die Entwicklung, die anderen fordern, noch stärker auf die „Hoffnungsbotschaft des Evangeliums“ zu setzen, die nächsten denken sich Mitmachaktionen aus wie das öffentliche Taufen in Badeseen oder die „Trauung to Go“ am Valentinstag.

Eine der originellsten Interpretationen kam von der Generalsekretärin des Kirchentages, Kristin Jahn: „Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens.“

Zwei Entfremdungsspiralen sind am Werk. Weniger Mitglieder führen zu geringeren Kirchensteuereinnahmen. Der Abwärtstrend wird verstärkt durch geburtenstarke Jahrgänge, die in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen.

Mit knapperen Mitteln müssen steigende Ausgaben finanziert werden – bedingt durch Inflation, Personal- und Energiekosten, klimagerechte Sanierungen kirchlicher Gebäude. Diese Not führt zur Zusammenlegung von Gemeinden und Schließungen von Kirchen. Das wiederum hat oft Heimatverlust zur Folge, was die Austrittswilligkeit befördert.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Für die Alteingesessenen entsteht Vertrauen aus Vertrautem

Die zweite Entfremdungsspirale entsteht durch den Zwiespalt von Tradition und Moderne. Regelmäßige Gottesdienstbesucher sind mit der Liturgie vertraut, kennen die Gebete und können Lieder teils auswendig mitsingen. Auf Außenstehende wirkt das wie eine verschworene Gemeinschaft, ein sie ausschließender Klüngel. Wer daraus jedoch die Forderung nach radikal neuen Gottesdienstformen ableitet, verprellt leicht die Routineerwartungen der Alteingesessenen. Für sie entsteht Vertrauen aus Vertrautem.

Ein „Erlösungsprozess durch Austritte“ – darüber lohnt ein Nachdenken. Aber es muss ein mutiges, schrankenloses Nachdenken sein. Das ist die zentrale Frage: Verhindert das System der vom Staat eingezogenen Kirchensteuer nicht auch das Bemühen um Mitglieder? Pfarrer befinden sich in keiner Bewährungs- oder gar Konkurrenzsituation. Ob sie gute oder schlechte Seelsorger sind, hat nur selten unmittelbare Folgen.

Den Staatsvertrag aufzulösen, auf dessen Grundlage die Kirchensteuern eingezogen werden, wäre allerdings ein Großprojekt. Die Kirche mit ihren Einrichtungen ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Schulen, Kliniken und Kindergärten sollten nicht geschlossen werden. Caritas und Diakonie werden schon jetzt zum großen Teil vom Staat finanziert.

Außerdem ist offen, was das jetzige System ersetzen soll. Eine reine Spendenfinanzierung wie in den USA führt zu schwer kalkulierbaren Einnahmeschwankungen. Zu prüfen wäre eine Struktur wie etwa in Italien, wo jeder Steuerpflichtige eine Sozial- und Kulturabgabe zahlen muss, über deren Zweck er selbst entscheiden kann.

Zwei Drittel der Deutschen sind für eine Abschaffung der Kirchensteuer. Die Kirchen täten gut daran, diese Debatte selbst zu führen. Das System ist für sie bequem, aber womöglich macht es sie auch bequem.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false