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Als man noch sprach: Martin Schulz, damals noch EU-Parlamentspräsident, und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor einem Jahr in Brüssel

© Julien Warnand/epa-dpa

Schulz, die Türkei und Europa: Pro und contra Schulz: Türkeistämmige sind geteilter Meinung

Den Beitrittsprozess der Türkei abbrechen will SPD-Kandidat Schulz: Was die einen für klare Kante halten, sehen andere als Gefallen für Erdogan.

Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen oder nicht? Die Äußerungen des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz im TV-Duell mit der Kanzlerin lösen in der deutsch-türkischen Community ein geteiltes Echo aus.
Aus der eigenen Partei bekam Schulz’ Aussage, er würde als Kanzler für ein Ende der Beitrittsverhandlungen auf EU-Ebene eintreten, nicht nur vom SPD-Außenpolitiker Mützenich Beifall. Auch Aziz Bozkurt, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt der SPD, sprach von einem „völlig richtigen Schritt“. „Jetzt machen wir uns ehrlich und beenden die sowieso nicht laufenden Verhandlungen.“

Türkische Gemeinde: Schulz' Ansage ist unglücklich

Der Bundeskanzlerin warf er vor, sie sei dem „entfesselten Erdogan“ in einer Weise begegnet, die der weder verstehe noch ernst nehme: „Despoten pflegen eine andere Sprache zu sprechen als Demokraten.“ Im türkischen Präsidentschaftswahlkampf hätten Merkels Besuche praktisch als Unterstützung für Erdogan gewirkt. „Mit Martin Schulz’ Ankündigung, Beitrittsverhandlungen zu beenden, würde Deutschland tatsächlich mal Gewicht in die Waagschale werfen.“ Dass damit auch einer veränderten Türkei nach Erdogan die Tür nach Europa zugeschlagen würde, sieht Bozkurt nicht: „Offen wird Europa immer für die Türkei sein, wenn sie wieder auf den demokratischen Pfad findet.“
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) sieht Schulz’ Wende dagegen kritisch: „Der Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre keine gute Idee“, sagte Gökay Sofuoglu dem Tagesspiegel. „Ich finde schade und unglücklich, was Martin Schulz da gesagt hat.“ Er habe beim TV-Duell „den Eindruck eines Rollentauschs“ gehabt: „Merkel vertrat die ursprüngliche SPD-Position, die auch richtig ist: Es gibt Erdogan, aber 50 Prozent der Menschen in der Türkei wählen ihn nicht und stehen für demokratische und europäische Werte.“ Sofuoglu mahnte, „klar zwischen dem Land und Erdogan zu trennen“. Solange Erdogan regiere, werde die Türkei ohnehin nicht EU-Mitglied. „Wenn man aber jetzt die Beitrittsverhandlungen stoppt, ist das eine Entscheidung. Es dürfte schwierig werden, später zurückzurudern.“

"Ein Geschenk für Präsident Erdogan"

Kritik kam gestern auch aus der türkisch-deutschen Kulturszene. Das einst von den Schriftstellern Günter Grass und Yasar Kemal gegründete „Kultur-Forum Türkei–Deutschland“ bekräftigte seine Ablehnung eines Abbruchs der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. Die Künstlervereinigung mit Sitz in Köln will am Dienstag in Köln und am Sonntag – dem 44. Geburtstag des inhaftierten Berliner Journalisten Deniz Yücel – in Berlin für die Freilassung der von Ankara drangsalierten und inhaftierten Journalisten und Autoren demonstrieren. „Ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei würde die politischen Geiseln in der Türkei nicht glücklich machen“, heißt es im Aufruf des Forums. „Im Gegenteil. Dies wäre nur ein Geschenk für den Präsidenten Erdogan, das ihn und nicht die demokratischen Kräfte in der Türkei stärken würde.“

CDU-Politiker Polenz: EU-Verhandlungen stagnieren sowieso

Aus dem gleichen Grund ist auch Ruprecht Polenz skeptisch. Der langjährige CDU-Außenpolitiker und Befürworter eines Beitritts der Türkei warnt: "Erdogan braucht innenpolitisch genau dieses Argument: Die EU schlägt uns die Tür vor der Nase zu, wir sind von Feinden umgeben. Den Gefallen sollte man ihm nicht tun." Nach Polenz' Einschätzung will der starke Mann der Türkei den EU-Kurs selbst nicht mehr - "er traut sich aber nicht, das offen zu sagen in einem Land, für das die europäische Orientierung seit den Tagen des Republikgründers Atatürk Staatsräson war". Zudem sei der EU-Beitritt aktuell kein Prozess, den man dringend unterbrechen müsse, um ein Zeichen zu setzen. Er sei ohnehin praktisch suspendiert, "alles stagniert". Selbst die sogenannten Vorbeitrittshilfen der EU einzustellen, hält Polenz für kontraproduktiv: "Man sollte sehen, wofür gezahlt wird. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Gelds geht in die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, an Anwälte und Menschenrechtsvereinigungen.Wenn man da streicht, braucht man einen anderen Anlauf, hier zu helfen. Den aber könnte der türkische Staat unterbinden." Polenz sieht Schulz' Absage an eine europäische Türkei ein klares Stück Wahlkampf: "Der EU-Beitritt der Türkei war in Deutschland nie populär. Die gedankliche Verbindung Muslime-Terror hat ihn noch unpopulärer gemacht und Erdogans Politik hat dem Wunsch, die Türken dahin zu schicken, woher sie kamen, nun auch noch ein menschenrechtlich seriöses Argument geliefert." Das führe im Wahlkampf zur Hoffnung: "Wer Erdogan am schärfsten zurückweist, gewinnt."

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