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Mitglieder der AfD auf einer Landeswahlversammlung. „Sie haben ein gutes Gespür dafür, was für ein Vakuum auf dem Land entstanden ist“, sagt der Politikwissenschaftler Jörg Hebenstreit.

© picture alliance/dpa/Stefan Sauer

Politologe Hebenstreit zum Höhenflug der AfD: „Das Vertrauen in die Bundesregierung hat sich halbiert“

Wie ist der Erfolg der Rechtspopulisten zu erklären und was können andere Parteien dagegen machen? Der Politikwissenschaftler Jörg Hebenstreit hat einige Antworten dazu.

Nur einer von fünf Wahlberechtigten ist in Thüringen nach einer aktuellen Meinungsumfrage zufrieden mit der Bundesregierung. Wäre heute Bundestagswahl, käme die SPD, die Partei von Bundeskanzler Olaf Scholz, auf 18 Prozent – und läge damit einen Prozentpunkt hinter der rechtspopulistischen AfD mit 19 Prozent.

Die demokratischen Parteien geben sich seit Tagen gegenseitig die Schuld an dem Ergebnis. Doch was ist der Grund für den Erfolg der AfD? Jemand, der das zuverlässig einordnen kann, ist der Politikwissenschaftler Jörg Hebenstreit.

Herr Hebenstreit, Ihren Erkenntnissen zufolge ist das Vertrauen in die Bundesregierung im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozentpunkte auf 22 Prozent gesunken. Das klingt desaströs.
Mathematisch bedeutet das Ergebnis, dass sich das Vertrauen in die Bundesregierung innerhalb von nur zwei Jahren halbiert hat. In der Summe heißt das, dass nur noch eine von fünf Personen der Bundesregierung vertraut, das ist sehr, sehr wenig. Das heißt aber nicht, dass der Rest sagt: Wir vertrauen ihr gar nicht. Wir haben noch eine Mittelkategorie, in der sagen 33 Prozent, sie vertrauen der Regierung teilweise. Doch es ist der deutlichste Rückgang des Vertrauens in die Bundesregierung, den wir seit Messbeginn im Jahr 2000 beobachten. Das ist zumindest besorgniserregend.

Was bedeutet Vertrauen in diesem Zusammenhang eigentlich? Heißt es, ich traue der Bundesregierung nicht zu, dass sie die derzeitigen Probleme bewältigen kann? Oder bedeutet es: Ich vertraue der Bundesregierung nicht, meine Interessen zu vertreten?
Vertrauen heißt hier erst mal das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Regierung. Sie wird der Regierung in dieser toxischen Krise aus Corona, Ukrainekonflikt, Inflation und Energiepreisen, abgesprochen. Dazu muss man erwähnen, dass wir die Daten im vergangenen Herbst erhoben haben, wo noch mit einem Wutwinter gerechnet wurde.

Aber Vertrauen bedeutet auch eine subtilere Form der Unterstützung, wo man sagt: Ich kann dem, dem ich meine Stimme gegeben habe, nicht mehr trauen, weil er beispielsweise Dinge verspricht, die er nicht hält, weil er Wahlversprechen bricht, weil er nicht im Sinn der Bevölkerung handelt.

Und was folgt daraus?
Wird das Vertrauen hier entzogen, dann verliert die Demokratie an Unterstützung und an Legitimation. Gleichzeitig sehen wir die sogenannte demokratieferne Rebellion, was heißt, dass populistische, rechtspopulistische, extremistische Gruppierungen Zulauf bekommen. Verschwörungserzählungen fallen auf fruchtbaren Boden, Pegida und Reichsbürger gewinnen Anhänger. Deswegen muss politisch Vertrauen zurückgewonnen werden. Das ist die wichtigste Aufgabe.

Weiterhin geben 70 Prozent der Befragten an, dass sich Bundespolitiker nicht genügend für ihre Region interessieren. Was auch alarmierend klingt. Was sind es für Sorgen, die die Menschen im Land auf Bundesebene offenbar nicht ernst genommen sehen?
Vor allem bildet sich hier die ökonomische Krise ab. Geht es den Menschen schlecht, dann sind sie unzufrieden. Geht es ihnen gut, dann sind sie weniger unzufrieden oder sie sind zufrieden. Im Schnitt ist das Einkommen und das Vermögen der Menschen in ländlichen Regionen niedriger als in der Stadt. Demzufolge treffen wirtschaftliche Krisen, Inflation, Energiepreiskrisen die Leute dort stärker, und sie können auf diese Herausforderungen auch weniger gut reagieren. Das löst schneller Ängste aus, vor Statusverlust. Diese ökonomischen Variablen stellen sich in unseren Erklärungsmodellen immer als die stärksten Faktoren heraus.

Politische Ursachen sind weniger wichtig?
Die gibt es natürlich auch. Man hat nicht stark genug auf diese Vielfachkrise reagiert, wirtschaftlich nicht nachgesteuert, diese Effekte nicht einfangen können. Es geht aber nicht nur um Fragen wie: Können wir uns im Winter überhaupt noch eine warme Wohnung leisten? Wie entwickelt sich der Ukrainekonflikt? Was ist mit der Klimakrise?

Das ist ein Zusammenkommen von Krisen, die für sich genommen schon sehr viel Misstrauen auslösen können. Hinzu kommen noch die Flüchtlingsbewegung und Migrationsbewegungen aus der Ukraine, die ebenfalls Auslöser für Vertrauensrückgänge und Unzufriedenheit sein können.

Abwanderung, Verfall, fehlende Infrastruktur – die Menschen auf dem Land haben das Gefühl, dass sich die Bundespolitik nicht genügend für ihre Probleme interessiert.
Abwanderung, Verfall, fehlende Infrastruktur – die Menschen auf dem Land haben das Gefühl, dass sich die Bundespolitik nicht genügend für ihre Probleme interessiert.

© imago/Dirk Sattler/Dirk Sattler

Das sind also die typischen Ängste derer, denen es objektiv gesehen nicht schlecht geht, sondern die Angst davor haben abzurutschen.
Genau. Sie nehmen wahr, dass etwas im Fluss ist. Wir erheben das mit der Frage: „Es macht mir Sorgen, durch die gesellschaftliche Entwicklung immer mehr auf die Verliererseite des Lebens zu geraten“. Das treibt die Leute um, und das ist ein ganz starker Faktor. Den muss die Politik adressieren und den Leuten wieder Zuversicht geben.

Wie begründen die Leute ihre Angst?
Danach fragen wir in der Regel nicht, weil dass die Menschen überfordert. Das beobachten wir immer wieder. Die Menschen haben sehr starke Meinungen. Wenn man sie danach befragt – hin und wieder machen wir das, stellen dann offene Fragen wie: Warum fühlen Sie sich ungerecht behandelt? – dann kommen die Menschen sehr schnell ins Straucheln. Es heißt dann: Weiß ich nicht, nächste Frage.

Die Populisten nutzen die Situation im Osten schon seit Jahren gezielt aus.

Jörg Hebenstreit

Eine weitere Erkenntnis ist, dass Populismus auf dem Land sehr viel besser verfängt als in der Stadt. Was ist jetzt von Populisten zu befürchten, denen ja daran gelegen sein wird, die Situation zu nutzen?
Ich würde es umkehren und sagen, dass die Populisten längst sehr gut verstanden haben, was vor sich geht. Sie nutzen diese Situation gerade im Osten schon seit Jahren gezielt und erfolgreich aus. Sie haben ein gutes Gespür dafür, was für ein Vakuum hier entstanden ist. Das zeigen die Landtagswahlkämpfe im Osten schon seit fünf Jahren. Das zeigen aber auch die Europa- und die Bundestagswahlkämpfe. Vor vier Jahren hat die AfD eine Kampagne mit dem Slogan „sozial sein, ohne rot zu werden“ geführt.

Es braucht nur einen eingängigen Slogan und schon wandern die Wähler ab?
Es ist kommt vor, dass Wählerinnen und Wähler von der Linken zur AfD wechseln oder von der SPD zur AfD. Und die Erklärung ist eben, dass die Personen sozioökonomisch links sind. Sie wollen den Wohlfahrtsstaat, sie wollen ein Gesundheitssystem, die wollen gute Bildung haben. Aber mit Blick auf die kulturelle Konfliktachse, wie wir sie nennen, sind sie keine Kosmopoliten, sondern sehr konservativ und national orientiert. Deswegen fällt es ihnen auch nicht schwer, diesen Schritt zu gehen.

Mit den Wohnräumen Stadt und Land fällt also sowohl die ökonomische als auch die kulturelle Unzufriedenheit zusammen?
Genau deswegen gehen Populisten stärker aufs Land. Im Englischen nennt man das rural resentment, also die ländliche Verbitterung. Das ist der Frust über das Abgehängtsein, über kulturelle Zurücksetzung, Abwertungserfahrungen. Populisten fischen da recht beachtlich.

Eine Haltestelle mit Wartehäuschen in Thüringen.
Eine Haltestelle mit Wartehäuschen in Thüringen.

© picture alliance/dpa/Martin Schutt

Warum funktioniert das auf dem Land so gut?
Wenn der Bus nur einmal am Tag fährt und auch das nur bis zum nächsten Bahnhof, die Bevölkerung abwandert, sie in einem überalterten Ort wohnen, wo sich nichts Neues ansiedelt, dann nehmen die Leute das deutlich wahr. Die Infrastrukturvariablen fügen sich dann in eine politische Meinung.

Dazu kommt noch der sogenannte Sorting-Effekt. Den beobachten wir auch weltweit. Menschen, die an der Beibehaltung der gegenwärtigen Tradition interessiert sind, ziehen eher von der Stadt auf das Land. Wir haben eine Homogenisierungsbewegung sowohl auf dem Land als auch und in der Stadt. Die Leute auf dem Land sind häufig eher depriviert.

Deprivation ist ein wissenschaftliches Konzept, das versucht zu messen, ob eine Person den Eindruck hat, dass sie den gerechten Anteil innerhalb der Gesellschaft bekommt. Und da sehen wir, dass Deprivation in den ländlichen Gebieten deutlich höher ist. Insbesondere die Ostdeprivation ist stärker ausgeprägt. Es gibt dort eine negative Bewertung der Wiedervereinigung. Das heißt, die Leute sagen, dass die deutsche Einheit für sie oder für die Region eher Nachteile als Vorteile gebracht hat. Abwanderung und fehlende Ausbildungsplätze haben sich dort zu einem Riesenproblem verdichtet.

Also ist eine negative Wendeerfahrung noch 33 Jahre nach dem Ende der DDR spürbar?
Ja, absolut. Und das nutzen Populisten gezielt. Die AfD hat in Bundestagswahlkämpfen immer wieder diese abgehängten Regionen thematisiert, dass die Ostdeutschen die Menschen zweiter Klasse seien. Wir sind das Volk, wir werden vergessen. Das ist das Narrativ.

Sind der Populismus und die Tendenzen zum Rechtsextremismus wieder einfangbar?
Das sind sie natürlich. Aber das ist nichts, was man über Nacht machen kann oder nächste Woche, mit aller Wahrscheinlichkeit auch nicht im nächsten Jahr, sondern eher in den nächsten 5 bis 10 Jahren. Hierfür müssen die Folgen der Inflation und Energiekrise eingefangen und abgemildert werden, und bestehende wirtschaftliche Ungleichheiten im Sinne der grundgesetzlichen Maßgabe „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ müssten abgebaut werden.

Gleichzeitig darf keinesfalls weiteres „Vertrauenskapital“ durch Affären wie „Maskendeals“ inkonsistentes Verhalten verspielt werden. Dazu zählt auch, dass man nur das versprechen sollte, was man auch halten kann.

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