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Die Pflegeversicherung ist unterfinanziert.

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Milliardenloch in der Pflegeversicherung: „Seit Jahren warnen wir vor dem drohenden Kollaps“

Immer mehr Alte machen die Pflege immer teurer. Die soziale Pflegeversicherung funktioniert nicht mehr, warnen die Berufskrankenkassen. Doch die Politik scheut große Strukturreformen.

Karl Lauterbach war selbst unzufrieden. „Ich weiß, dass dieses Gesetz kein perfektes Gesetz ist“, sagte der Gesundheitsminister, als der Bundestag im Mai 2023 seine Pflegereform beschloss.

Knapp ein Jahr später drängen die Betriebskrankenkassen (BKK) den SPD-Politiker nun eindringlich, mehr zu tun. Die Vorständin des BKK Dachverbands, Anne-Kathrin Klemm, warnte vor Milliardendefiziten in der sozialen Pflegeversicherung. Bereits in diesem Jahr werde das Minus nach Hochrechnungen des Verbands gut eine Milliarde Euro betragen, sagte Klemm, bis 2025 könnte es auf 4,4 Milliarden Euro anwachsen.

Klemm will verhindern, dass die Ampelkoalition auf das Milliardenloch nur mit einer Betragserhöhung reagiert. „Die Pflegebeiträge steigen ungebremst, ebenso die Eigenanteile Pflegebedürftiger in den Heimen. Die Pflegeversicherung muss dringend völlig neu ausgerichtet werden“, sagte sie. Es brauche einen grundlegenden Umbau der Pflegeversorgung: „Die Flickschusterei der vergangenen Jahre muss beendet werden.“

„Die Pflegebeiträge steigen ungebremst, ebenso die Eigenanteile Pflegebedürftiger in den Heimen.

Anne-Kathrin Klemm, Vorständin beim BKK Bundesverband

Seit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 1995 sind die Pflichtbeiträge von einem Prozent der Bruttolohns bis 2023 bereits auf 3,4 Prozent gestiegen, für Kinderlose liegt der Beitrag schon bei vier Prozent. Ohne Reformen würden Kinderlose 2027 über fünf Prozent Beitrag zahlen, rechnete der BKK Dachverband am Montag vor.

Die Babyboomer kommen noch

Der demografische Wandel setzt die Pflegeversicherung schwer unter Druck. Mehr als fünf Millionen Leistungsempfänger gibt es inzwischen. Noch 2018 waren es weniger als vier Millionen. Doch die größte Herausforderung steht noch bevor, wenn auch die Babyboomer ins hohe Alter kommen.

Damit möglichst wenige von ihnen pflegebedürftig werden, möchten Klemm mehr Geld in die Prävention stecken. Dafür will die Vorständin des BKK Dachverbands Pflege- und Krankenversicherung wieder enger verzahnen.

Die Berufskrankenkassen wollen Pflegende Angehörige stärken. Diese würden 84 Prozent der Pflege stemmen, betonte Klemm – zu vergleichsweise niedrigen Kosten. Damit sie nicht zwischen Pflege und Beruf zerrieben werden, will Klemm ihnen je nach Belastung zukünftig einen Pflegelohn zahlen – statt des eher knapp bemessenen Pflegegeldes. Auch Rentenansprüche sollen mit der Pflege von Angehörigen künftig einhergehen.

Bei einer Heimunterbringung will Klemm hingegen die Eigenanteile stärker nach dem Einkommen der Pflegebedürftigen ausgestalten. Nicht mehr alle Pflegebedürftigen sollen die vollen Zuschläge erhalten.

Seit Jahren warnen wir vor dem drohenden Kollaps.

Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland

Um die Beitragszahler zu entlasten, fordert Klemm aber vor allem mehr Steuergeld. Die sogenannten versicherungsfremden Leistungen – etwa Kosten für die Rente oder die Ausbildung von Pflegekräften – soll der Staat künftig übernehmen. Nach Berechnungen des BKK-Bundesverbandes könnte ein Anstieg der Beiträge über vier Prozent so verhindert werden.

Unterstützung erhalten die Betriebskrankenkassen vom Sozialverband Deutschland. „Der Gesetzgeber fährt die soziale Pflegeversicherung und die pflegerische Versorgung in Deutschland sehenden Auges an die Wand“, sagte die Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier dem Tagesspiegel. „Seit Jahren warnen wir vor dem drohenden Kollaps.“ Statt umfassende Reformen anzugehen, erhöhe der Gesetzgeber die Beiträge und verschiebe gesamtgesellschaftliche Aufgaben in den privaten Bereich.

Als Gesundheitsminister Lauterbach vor einem Jahr seine Minireform präsentierte, sagte er zugleich eine umfassende Strukturreform zu. Ob diese in dieser Legislatur noch kommt, gilt inzwischen als offen. Auf Anfrage äußert sich das Gesundheitsministerium zurückhaltend: Zur Zukunft der Pflegeversicherung werde eine Fach-Arbeitsgruppe bis Ende Mai einen Bericht vorlegen. Bei der Debatte um künftige Finanzierungsmodelle spielten dabei – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – auch Steuermittel eine Rolle, um zu verhindern, dass deutlich steigende Beitragssätze Wachstum und Beschäftigung gefährden.

Statt eines Herumdokterns am bestehenden System forderte Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) unlängst erneut, die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung auszubauen – bei der Pflegebedürftige alle Kosten erstattet bekommen.

Linke fordert Vollversicherung

In der Unionsfraktion im Bundestag kommt Laumann damit nicht gut an. Man stehe weiterhin zur sozialen Pflegeversicherung als Teilleistungsmodell, sagte die CDU-Gesundheitspolitikerin Diana Stöcker dem Tagesspiegel.

Zustimmung erntet Laumann ausgerechnet bei der Linken. Deren pflegepolitischer Sprecher, Ates Gürpinar, fordert, dass „ausnahmslos alle Einnahmen herangezogen werden und alle einzahlen“. So will Gürpinar ermöglichen, dass „endlich alle pflegebedingten Kosten übernommen werden“. Pflege dürfe nicht länger arm machen und belasten, meint Gürpinar.

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