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Bundespräsident Joachim Gauck und Samuel Koch beim Kirchtag am 02.05.2013.

© dpa

Kirchentag in Hamburg: Keine großen politischen Forderungen beim Kirchentag

Beim Kirchentag in Hamburg fordert Bundespräsident Gauck weniger Ideologie und mehr Praxis um Umgang mit behinderten Menschen. Auch die Teilnehmer sind nicht an politischen Großforderungen interessiert.

7000 Menschen sitzen in Halle B5 auf Papphockern und suchen nach der Formel fürs gute Leben. Bundespräsident Joachim Gauck soll dabei helfen. Auch Samuel Koch, der seit einem Unfall bei „Wetten dass..?“ querschnittsgelähmt ist, und Pfarrer Rainer Schmidt. Wie das Leben gelingen kann und ob es überhaupt die eine Norm gibt, nach der alle leben können, solche Fragen stehen im Zentrum des Kirchentags in Hamburg mit dem Motto „Soviel du brauchst“. Braucht der Mensch ein stetiges Wirtschaftswachstum? Braucht der Mensch Religion? Braucht er Besitz?

Braucht der Mensch zehn Finger? Das ist die Frage für Rainer Schmidt an diesem Tag. Er sitzt Gauck gegenüber und freut sich besonders über seinen Daumen. Er hat nur diesen einen Finger, keine Unterarme, keine Hände. Der Daumen ist dort gewachsen, wo bei anderen der Ellbogen sitzt. Er hatte Glück. In seinem Leben gab es immer wieder Menschen, die mit ihm seine Fähigkeiten entwickelten, statt über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Als er in den Tischtennisverein eintrat, erzählt Schmidt, habe der verblüffte Trainer ihn nicht nach Hause geschickt oder ihn ironisch gefragt, ob er nicht erst stricken lernen wolle. Sondern: Wie können wir hinkriegen, dass du ohne Unterarme spielen kannst? So erging es ihm auch in der Schule und an der Uni. Bei den Paralympics hat er im Tischtennis Gold- und Silbermedaillen geholt, er hat studiert und ist Pfarrer. „Offiziell bin ich zu hundert Prozent arbeitsunfähig. Manchmal frage ich mich selbst, warum ich eigentlich arbeite“, sagt er.

Gauck fordert weniger Ideologie und mehr Praxis im Umgang mit Behinderten

Sich nicht hängen lassen ist auch Samuel Kochs Formel, mit der er sein neues Leben zu bewältigen versucht. „Sich nicht hängen lassen“: Gauck greift das Stichwort auf. Auch gesamtgesellschaftlich müssten wir wieder unsere Kräfte mobilisieren, sagt er. „Wenn wir uns fordern, tun wir uns selbst etwas Gutes.“ Sich nicht wegducken, wenn es schwierig wird, sondern sich den Herausforderungen stellen, zum Beispiel Kinder bekommen und erziehen oder behinderte Kinder nicht abtreiben. Die eine Norm für alle gibt es nicht, aber jeder könne etwas tun. Die einen kämpfen mit körperlichen Einschränkungen, die anderen mit ihrer Herkunft, wiederum andere mit den Barrieren im Kopf. „Weniger Ideologie, mehr Praxis“, fordert Gauck.

Was alles geht, wenn sich Menschen zusammentun und mal um die Ecke denken, zeigt sich auf dem „Markt der Möglichkeiten“. Seit eineinhalb Jahren wirbt bundesweit ein Modellprogramm für „Mehr Männer in Kitas“. 500 Männer haben sich gemeldet und lassen sich zum Erzieher umschulen. In den kirchlichen Kitas in Hamburg gibt es jetzt elf Prozent männliche Erzieher, vor zwei Jahren waren es knapp fünf Prozent. „Männer haben Lust dazu“, sagt Rainer Zimpel, „und langsam setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass nicht nur Frauen mit kleinen Kindern umgehen können“. Ein Anfang.

Keine politischen Großforderungen beim Kirchentag

Oder Monika Labruier. Sie ist Geschäftsführerin einer Leiharbeitsfirma der besonderen Art: Sie verleiht Mitarbeiter mit Behinderungen. Um den Unternehmen die Angst zu nehmen, stellt sie die Mitarbeiter erst einmal selbst an. Mittlerweile würden Firmen gezielt bei ihr anfragen und ihr die meisten Arbeitskräfte abwerben, sagt sie.

Auf dem Kirchentag wird kein Manifest verabschiedet. Auf politische Großforderungen reagieren die Besucher mittlerweile allergisch. Das heißt nicht, dass der Kirchentag unpolitisch geworden ist. Auf dem Programm steht zum Beispiel ein „Planspiel Rechtsextremismus“, bei dem in Rollenspielen erprobt wird, was man konkret tun kann gegen rechts. Wegen des großen Andrangs von Jugendlichen gibt es das Spiel dreimal täglich. Es darf keine Dogmen geben, lautet das neue Credo. Aber auch Vielfalt dürfe nicht aufgezwungen werden. Jeder nach seinem Maß. „Soviel du brauchst.“

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