Fremdscham oder Authentizität?: Zwölf Tanzvideos von Politikerinnen und Politikern, die für Furore sorgten

Sanna Marins jüngstes Partyvideo wird viel kritisiert – und gelobt. Doch nicht nur die finnische Regierungschefin schwingt gern das Tanzbein.

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19.08.2022, 18:48 Uhr

Hätte John F. Kennedy US-Präsident werden können, wenn es damals schon Handy-Kameras gegeben hätte? Man möchte lieber nicht drauf wetten. Er mag zwar einen Atomkrieg verhindert haben, war aber im Privatleben nicht gerade für einen puritanischen Lebenswandel bekannt.

Wie viel Lebensfreude gönnt das durchs Internet heute bestens informierte Volk den Politikern? Aktuell wird in den sozialen Medien ein Video kontrovers diskutiert, das die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin zeigt, wie sie ausgelassen tanzt und feiert. Klar, bei Politikern kann man alles skandalisieren und gegen sie verwenden.

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So ein Video nutzt der politische Gegner natürlich gern als Steilvorlage. Man möchte sich lieber nicht vorstellen, was in diesem Land los wäre, wenn solche Bilder von Außenministerin Annalena Baerbock aufgetaucht wären, die ja nur wenige Jahre älter ist als die 36-jährige Finnin.

Gerade die Deutschen sind bekannt für ihren besonders strengen, manchmal gnadenlosen Umgang mit Spitzenpolitikern. Da reicht schon ein Lachen am falschen Ort, um jahrelange Anstrengungen zunichte zu machen. Aber möchte man wirklich Biedermänner und -frauen an der Spitze des Landes haben? Verknöcherte Typen, die sich mit säuerlicher Miene 24/7 aufopfern für ihr Land?

Die Generation Work-Life-Balance hat ein erweitertes Verständnis, glücklicherweise. Die Kommentare im Internet zeigen es. Dass in Top-Jobs neben anderen Qualifikationen vor allem auch emotionale Intelligenz gefordert ist, hat sich sowieso längst herumgesprochen. Die lässt sich aber nicht allein mit einer entsagungsvollen Lebensweise kultivieren.

Dass ein sichtbarer Hang zur Lebensfreude und ein Grundmaß an Menschlichkeit nur zu begrüßen sind, erkennt leicht, wer zwei Bildmotive vergleicht. Das eine zeigt den früheren russischen Präsidenten Boris Jelzin, wie er, angefeuert womöglich von guten Getränken, beim Abschied der russischen Truppen aus Berlin zum Dirigentenstab greift und bei anderen Gelegenheiten auch mal ein Tänzchen wagt.

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Das andere zeigt seinen Landsmann Wladimir Putin beim Bad in einem Eisloch im Januar vor vier Jahren.

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Zu dem Video der finnischen Ministerpräsidentin gibt es zwar empörte Kommentare, aber auch diesen: „In gewissen Kreisen herrscht zu Recht große Angst davor, dass normale Menschen, die sich mit normalen Menschen umgeben und Dinge tun, die normale Menschen tun, zu viel Macht bekommen - schließlich bestünde dann ja die Gefahr, dass sie sich auch für die Belange der normalen Menschen einsetzen würden…“.

Andere Kommentare gehen auch auf die eher wortkarge Persönlichkeit des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz ein, der gerade zu einem umgekehrten Image-Problem tendiert wie seine finnische Kollegin. „Während unser Herr Scholz eher auf einer Beerdigung vorstellbar wäre, kann man sich bei Baerbock und Habeck sehr gut vorstellen, dass sie in Wacken auftauchen. Richtig so. Auch Politiker haben ein Recht auf ein bisschen Spaß….“. Bei einem kurzen, im Internet gezeigten Tanzversuch scheint Scholz jedenfalls keinen Spaß zu haben. Das Schicksal teilt er wohl mit seiner Vorgängerin Angela Merkel.

Das Klischee ist trotzdem leicht bei der Hand und üppig zu bedienen: Die da oben trinken Sekt und feiern, während das Volk schmachtet und Wasser trinken muss. Das stimmt so aber gar nicht, sonst wären die Clubs ja gähnend leer.

Ministerin Nancy Faeser, Botschafterin Anka Feldhusen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und Arbeitsminister Hubertus Heil in Kiew.

Auf Youtube kann man auch andere Politiker beim Tanzen bewundern. Nicht alle geben sich so ausgelassen sinnlich und sexy wie Sanna Marin. Emmanuel Macron scheint sich eher unwohl zu fühlen, als er bei einem Besuch in Lagos vom Afrobeat-Musiker Femi Kuti in eine Tanz-Zeremonie hineingezogen wird.

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Die frühere britische Premierministerin Theresa May inszeniert sich vor ihren Parteikollegen als „Dancing Queen“ und ihr Nachfolger Boris Johnson ist beim Hochzeitstanz zu den Klängen von „Sweet Caroline“ unterwegs.

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Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz traute sich gerade beim Sommerfest seiner Partei zu „Lady Bump“ aufs Parkett und handelte sich dafür auch Spott ein.

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Sympathiepunkte gab’s hingegen für die demokratische US-Kongressabgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez, als politische Gegner versuchten, sie nach ihrer Wahl mit einem alten Tanzvideo zu desavouieren.

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Als echter Tanzprofi ist Wolodymyr Selenskyj in einem Video zu sehen aus der Zeit bevor er Präsident der Ukraine war.

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Auch Barack Obama offenbart einschlägiges Talent.

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Das Magazin Politico hat gerade ein Ranking für tanzende Politiker erstellt, bei dem die finnische Ministerpräsidentin an der Spitze steht, vielleicht, weil sie so unbefangen wirkt. Angesichts mancher Kommentare kann man nur hoffen, dass das so bleibt.
Wie es scheint, gönnt das globale Volk so richtig erst einem Menschen, der 27 Jahre als politischer Gefangener inhaftiert war, wie Nelson Mandela, dass er gerne tanzt. Der südafrikanische Präsident war berühmt für sein großes Charisma.

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Größe funktioniert freilich nicht unbedingt nach kleinbürgerlichen Kriterien. Vielleicht ist es gut, dass die sozialen Medien gerade alles an Blockwartmentalität ans Licht fördern, um es nach und nach auszukurieren. Die souveräne Art, mit der Sanna Marin mit der Geschichte umgeht, wirkt jedenfalls vorbildlich.

Natürlich ist sie nicht erfreut über die Veröffentlichung eines privaten Partyvideos, sagt aber auch im Hinblick auf den sogleich unterstellten möglichen Drogenkonsum: „Ich habe nichts zu verbergen.“ Eine Gesellschaft, die nicht irgendwann an akutem Politikermangel untergehen möchte, sollte sich damit vielleicht zufriedengeben. Fehlbare Persönlichkeiten mit den richtigen Prioritäten wie John F. Kennedy werden gerade nämlich mehr denn je gebraucht.

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