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Politik: Das Fallen des Eisernen Vorhangs

Polen, Ungarn und die DDR: Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum beschreibt die Frühzeit des Ostblocks.

Im Siedler Verlag erschien vor einem Jahrzehnt das Buch „Die Grenze durch Deutschland“ von Roman Grafe, das am Beispiel eines einzigen Grenzabschnitts in Thüringen die vier Jahrzehnte der deutschen Teilung und ihre Auswirkungen darstellt. Jetzt erscheint im selben Verlag – und aus dem Amerikanischen übersetzt – Anne Applebaums Studie „Der Eiserne Vorhang“, die sich der Teilung Europas nach 1944 am Beispiel dreier Staaten (Polen, Ungarn und DDR) im ersten Nachkriegsjahrzehnt widmet. Sie ist einerseits ambitionierter, weil sie deren Ursachen und Auswirkungen in ganzer Breite – politisch, gesellschaftlich und kulturell – zu erfassen versucht, aber andererseits auf Osteuropa und erste Jahrzehnte des Ostblocks bis 1956 beschränkt. Wie Grafes Studie stützt sie sich sowohl auf Akten und Dokumente als auch auf persönliche Gespräche mit Zeitzeugen und auf Werke der bildenden Kunst und Literatur.

Die Ambition ist groß, aber sie hat auch ihren Preis. Die amerikanische Historikerin und Pulitzer-Preisträgerin, die in London lehrt, in Warschau lebt und mit dem polnischen Außenminister Radek Sikorski verheiratet ist, hat zwar einen umfassenden Horizont – auch über den sowjetischen Gulag hat sie ein Standardwerk verfasst –, kann aber selbst in der Geschichte dreier ausgewählter Staaten auf 600 Seiten nur Schwerpunkte herausgreifen und sich für Details auf das ihr Nächstliegende verlassen. Irrtümer ihrer Quellen und Gewährsleute kann sie bei einem so weiten Feld nicht immer aus eigenem Wissen berichtigen. Deutsche Leser, die bei Applebaum viele ihnen unbekannte Details vor allem aus Polen erfahren, werden bei Detailfehlern in der Darstellung der DDR leichter fündig – leider offenbar nicht die Lektoren des Verlags, die nicht nur Petitessen übersehen haben.

So übersiedelten keineswegs „Otto Dix und 1948 Bertolt Brecht bewusst nach Ostberlin, um ein sozialistisches Deutschland aufzubauen“; Dix blieb vielmehr in Singen am Hohentwiel und reiste nur häufiger zu Besuchen nach Dresden. Oskar Nerlinger war vor seinem Wechsel nach Ost-Berlin nicht Direktor der Kunsthochschule in West-Berlin, sondern nur Dozent; Applebaum hat ihn vermutlich mit Karl Hofer verwechselt. Eisenhüttenstadt wurde nicht 1953 „in Stalinstadt umbenannt“ und 1961 „wieder diskret“ zurückbenannt, sondern auf der grünen Wiese bei Fürstenberg errichtet und sogleich Stalinstadt getauft. Auch irritiert, dass im Kapitel über sozialistischen Städtebau zwar der Warschauer Kulturpalast und Walter Ulbrichts – zum Glück nicht realisierter – Plan für einen Dresdener Wolkenkratzer im Zuckerbäckerstil erwähnt werden, nicht aber die Berliner Stalinallee und ihr Architekt Hermann Henselmann. Dafür aber sein Kollege Kurt W. Leucht – auch Planer von Stalinstadt –, der hier mit falschem Vornamen als Karl Leucht genannt wird.

Mehr als eine Petitesse ist Applebaums Mitteilung, bei einer „verspäteten Parteisäuberung“ seien noch nach der Gründung der DDR dort „rund ein Dutzend deutsche Kommunisten … verhaftet und einige schließlich hingerichtet“ worden. Das trifft nach dem bisherigen Forschungsstand nicht zu, der nur den ungeklärten Tod des Reichsbahnchefs Kreikemeyer in Stasihaft verzeichnet; unter Verdacht steht Erich Mielke, es kam aber nie zur Anklage. Auch der Tod des erst 1956 aus West-Berlin entführten früheren Generalinspekteurs der Volkspolizei Robert Bialek in Bautzen, vermutlich infolge Folter, ist ungeklärt. Applebaum nennt weder diese noch andere Namen und Hinweise für ihre Darstellung, die hoffentlich – für den Rezensenten schwerer nachprüfbar – im Fall Polens und Ungarns besser gesichert ist. In ihren großen Linien ist sie durchaus überzeugend und einleuchtend strukturiert und kann Applebaums Kernthese belegen, dass es den Kommunisten in Osteuropa gelang, im Schatten des Eisernen Vorhangs die Zivilgesellschaften der sowjetischen Satellitenstaaten nachhaltig zu beseitigen.

Die Methoden, mit denen das gelang – Geheimpolizeiterror, Medienkontrolle, Kirchenkampf, Enteignungen und Kollektivierungen, Korruption, Unterwanderung, Spaltung, Gleichschaltung und Verbot anderer Parteien sowie Wahlmanipulation und -fälschungen – beschreibt sie umfassend, fallweise und nach nationalen Besonderheiten differenziert. Deshalb wird man auch ihrer Bewertung, dass die totale Kontrolle über Staat und Gesellschaft nicht in allen Ländern Osteuropas restlos und in gleicher Weise gelang, ebenso zustimmen können wie ihrer Modifizierung der Totalitarismus-Diagnose, die sie nach wie vor für eine „nützliche und notwendige empirische Beschreibung“ hält. Und dabei denkt sie nicht nur an Nordkorea, denn: „Obwohl neue Technologie es heute schwieriger erscheinen lässt, totale Kontrolle anzustreben, können wir nicht sicher sein, dass Mobiltelefone, Internet und Satellitenfotos nicht auch Kontrollinstrumente von Regimen werden könnten, die ebenfalls ,umfassend’ sein möchten.“

Im Rückblick auf Osteuropa bleibt es für sie jedenfalls dabei, dass Stalins Regime die Methoden und Techniken totalitärer Kontrolle so gut verstanden habe, „dass es sie erfolgreich exportierte“. Zwar hätten die Länder Osteuropas nach Stalins Tod sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen und auch in historischer Vergangenheit wenig gemein gehabt, „doch von 1945 bis 1989 verband die acht osteuropäischen Länder sehr viel“. Wie viel – oder wie wenig – zeigt ihre Drei-Länder-Studie im Vergleich leider nur für die Zeit der Errichtung und Befestigung des Eisernen Vorhangs von 1944 bis 1956. Für ein umfassendes Werk über die Unterdrückung Osteuropas ist das eine ziemlich willkürliche Zäsur. Aus russischer, polnischer und ungarischer Sicht trifft sie – wegen des XX. Parteitags, der Rückkehr Wladyslaw Gomulkas und der Ungarischen Revolution – noch eher zu als für die DDR, wo der Eiserne Vorhang erst 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer ganz niederging. Für alle sichtbar fiel er, trotz Solidarnosc in Polen, erst am 9. November 1989.Hannes Schwenger







– Anne Applebaum:
Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956. Siedler Verlag, München 2013. 600 Seiten, 29,99 Euro.

Hannes Schwenger

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