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Sie haben die Wahl: Am kommenden Sonntag wird über die nächste Regierung abgestimmt.

© Kay Nietfeld/dpa/Archiv

Bundestagswahl 2017: Warum Enttäuschung kein Grund zum Nichtwählen ist

Mathematisch gesehen ist es unmöglich, ein Wahlsystem zu errichten, das die Wünsche aller in das Ergebnis einbezieht. Was daraus folgt? Eine Kolumne.

Wen wählen bei der bevorstehenden Bundestagswahl? Einige beklagen, dass sie selten einen Zusammenhang zwischen ihrem Wahlgang und dem Wahlergebnis gesehen hätten. Oder enttäuscht worden seien von der

Politik, obwohl sie mit dem Wahlergebnis zufrieden waren. Die Zweifel und Enttäuschungen sind aber kein Grund, nicht zu wählen. Im Gegenteil sollten sie daran erinnern, dass mehr Engagement notwendig ist in einer Demokratie und nicht weniger.

Mathematisch gesehen ist es unmöglich, ein Wahlsystem zu errichten, das die Wünsche aller in das Wahlergebnis einbezieht. Das hat einer der größten Ökonomen der Nachkriegszeit entdeckt: Kenneth Arrow, gestorben dieses Jahr im Februar. In der Zeit des Kalten Krieges war er gefragt worden, ob das Vorgehen der USA in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion auch dem entspreche, was die US-Bürger wollten.

Als Mathematiker, der er war, suchte Arrow nach einer algebraischen Antwort. Eine Regel, die besagt, dass die Präferenz des Landes identisch ist mit den Präferenzen der Individuen in diesem Land, war aber „unmöglich“ zu finden. Er meinte damit nicht, dass alle hinter der Regierungspolitik stehen müssen, sondern dass jede Präferenz in die Entscheidungsfindung einbezogen wird: mathematisch unmöglich.

Liegt hier nicht auch eine Antwort auf unsere fruchtlosen Leitkulturpanikattacken verborgen? Es kann keine Leitkultur geben, deklariert von der Regierung, legitimiert durch die Wählerschaft in einem Verfahren, das die Präferenzen der Staatsbürger in einer Präferenz der Nation aufgehen lässt. Jede Entscheidung für eine Leitkultur erweist sich als diktatorisch, wenn auch nur die geringsten Ansprüche an das Verfahren ihrer Bestimmung gestellt werden.

Forscher sagen: Nicht nur das Ergebnis der Wahl ist falsch

In der Forschung, die Arrow angestoßen hatte, gingen andere Ökonomen sogar noch weiter: Das falsche Ergebnis wird auch noch auf Basis unechter Wünsche erzielt. Eine rationale Wählerin setzt das Kreuzchen strategisch. Wir denken über mögliche (und völlig abwegige) Koalitionen nach. Welche Koalition wünschen wir und wen sollten wir wählen, damit sie zustande kommt, auch wenn wir uns sonst anders entscheiden würden. Die Ökonomen Gibbard und Satterthwaite verwenden sogar den Begriff der „Manipulation“ als Fachterminologie für strategisches Wählen.

Was folgt aus alldem? Das Unmöglichkeitstheorem sagt nicht, dass es sinnlos ist, zur Wahl zu gehen. Es sagt, dass ich mich eben nicht aus der Verantwortung stehlen kann: Demokratie endet nicht an der Wahlurne. Gerade in der Unmöglichkeit einer demokratischen Entscheidungsregel kann paradoxerweise das Potenzial für die Entwicklung einer demokratischen Kultur liegen: im Denken, im Streiten, respektvoll, hinterfragend. Nicht nur medial oder im Bundestag, sondern überall: in den Küchen und auf den Straßen, in den Schulen und auf den Plätzen. Jeder Raum ist politisch.

Hören wir auch die Stimmen der Stimmlosen – zum Beispiel der Geflüchteten, der Bewohner ohne deutsche Staatsbürgerschaft, der Menschen in anderen Ländern, die von unserer Politik und Wirtschaft betroffen sind. Wo die Verfahren scheitern, sind die Menschen gefragt. Dies gilt stärker noch in Zeiten demokratischer Krise. Das Mindeste, was jeder und jede tun kann, ist, an diesem Tag der Wahl die eigene Stimme zu nutzen und die Feinde schmerzlich erlernter Solidarität zu verhindern.

Deniz Utlu

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